Kaiser Haile Selassie I. von Äthiopien war zu Lebzeiten alles zugleich: Despot, Modernisierer, Messias und „Man of the Year“ des Time Magazine, bevor eine Junta marxistischer Offiziere ihn vor fünfzig Jahren stürzte.
Am 27. September 1916 beschlossen die mächtigen Landesfürsten und kirchlichen Würdenträger Äthiopiens unter Führung von Verteidigungsminister Habte Giyorgis den Sturz des amtierenden Kaisers Lij Iyasu, der seit fast drei Jahren das Land regierte. Lij Iyasu stand im Verdacht, heimlich zum Islam konvertiert zu sein – ein Tabu in einem der ältesten christlichen Reiche der Welt. Die Verschwörer entmachteten ihn kurz darauf und wählten Ras Tafari Makonnen, einen Regionalfürsten, zum Regenten des Reiches und zum Thronfolger von Kaiserin Zauditu, die der Form nach Äthiopien regierte.
Ras Tafari entstammte einer altehrwürdigen Dynastie. Sein Stammbaum reichte einer historischen Überlieferung nach bis zur Königin von Saba und König Salomon zurück. Mit Energie ging er die Probleme des Landes an. In den folgenden Jahren modernisierte er die äthiopische Armee. Gleichzeitig schaffte er die Sklaverei ab. Zusätzlich erreichte er, daß das Land dem Völkerbund beitrat. Doch die Politik Ras Tafaris mißfiel der konservativen Kaiserin Zauditu sowie der Adelsopposition. Im September 1928 schlug der Regent einen Putsch reaktionärer Adeliger nieder, 1930 unterdrückte seine Armee die Rebellion von Gugsa Welle, des Gouverneurs der Provinz Begemder, womit die Adelsfronde ihr Ende fand.
Als kurz darauf Kaiserin Zauditu verstarb, war für Ras Tafari nun endlich der Weg frei zum Kaiserthron. Am 2. November 1930 wurde Ras Tafari zum „König der Könige“ und Kaiser Äthiopiens gekrönt. Von nun an nannte er sich „Haile Selassie“ “ – „Macht der Dreifaltigkeit“. Auch nannte er sich gern in Anlehnung an seine biblische Herkunft „ Löwe von Juda“.
Er wurde zur Galionsfigur der Dekolonisation Afrikas
Aber Haile Selassie und seinen Untertanen waren nur fünf Jahre des Friedens vergönnt. 1935 griff das faschistische Königreich Italien Äthiopien überraschend an. Mit dem Mut der Verzweiflung stellte sich der Kaiser mit seiner Armee Mussolinis Schwarzhemden entgegen, die ihn am 31. März 1936 in der Schlacht von Mai Ceu schlugen. Kurz darauf eroberten die Italiener nach einem Gewaltmarsch Addis Abeba, was den Krieg entschied. Der Kaiser ging zusammen mit seinem Hofstaat im Mai ins Exil nach London.
Verzweifelt rief Haile Selassie am 30. Juni 1936 den Völkerbund zur Intervention zugunsten Äthiopiens auf. Vergebens warnte er die Großmächte davor, angesichts der italienischen Aggression untätig zu verharren: „Die Katastrophen sind unausbleiblich, wenn die großen Staaten der Vergewaltigung eines kleinen Landes zusehen.“ Haile Selassies Brandrede verfing nicht, machte ihn jedoch über Nacht weltbekannt. 1936 wurde er vom Time Magazine zum „Man of the Year“ gekürt. Zum Glück dauerte der Aufenthalt Haile Selassies in Europa nur fünf Jahre. Bereits 1941 konnte der geflüchtete Kaiser wieder mit Hilfe der Briten seinen Thron in Besitz nehmen, nachdem die italienische Armee von den Truppen des Empires geschlagen worden war.
Nun brach eine neue Ära für Äthiopien an. Nach dem Anschluß der einst italienischen Kolonie Eritrea an Äthiopien erließ Haile Selassie Anfang der 1950er Jahre eine neue Verfassung, die den Untertanen des Kaisers Meinungs- und Religionsfreiheit garantierte – ein Novum in der Geschichte Äthiopiens. Die Modernisierungsbestrebungen machten Haile Selassie endgültig zur Galionsfigur der Dekolonisation Afrikas. In der westlichen Welt galt er als fortschrittlicher Monarch. In Wirklichkeit war er ein knallharter Despot, der jegliche politische Opposition unterdrückte. Dies blieb nicht ohne Folgen.
Als sich der Kaiser im Dezember 1960 auf einer Brasilienreise befand, putschten sein Sohn, Kronprinz Amha Selassie, und die Kaiserliche Hofgarde unter Führung von General Mengistu Neway gegen ihn. Der Staatstreich scheiterte, die Rebellen wurden öffentlich gehenkt. Dem Kronprinzen blieb dieses Schicksal erspart, weil sein Vater ihn begnadigte.
Dem innenpolitischen Triumph folgte der außenpolitische. Unter Haile Selassies Schirmherrschaft gründete sich 1963 die „Organization of African Unity“, genannt OAU, in Addis Abeba. Als Haile Selassie drei Jahre später Jamaika einen Staatsbesuch abstattete, empfingen ihn Tausende „Rastafaris“ wie den Messias.
Die Verehrung der Rastafaris war der letzte Glanzpunkt in Haile Selassies Regierungszeit. Anfang der 1970er Jahre erschütterte eine Hungerkatastrophe sein Reich, das mittlerweile Reformstau, bittere Armut und eine hohe Arbeitslosigkeit sowie Sterblichkeit prägten. Die Krise kulminierte, als in den dürregeplagten Provinzen Wollo und Tigray Zehntausende verhungerten, während die fruchtbaren Provinzen Äthiopiens gleichzeitig 200.000 Tonnen Getreide ins Ausland exportierten.
Was folgte, war ein politisches Erdbeben. Ende 1974 entlud sich die Erbitterung der Bevölkerung in Massendemonstrationen und Studentenunruhen. Vergeblich hoffte Haile Selassie auf die Hilfe des Militärs. Hatte ihn 1960 noch die hohe Generalität gerettet, stürzte ihn am 12. September 1974 eine Junta marxistischer Offiziere unter Führung von Major Mengistu Hayle Mariam. Dabei wurde auch der Neffe Haile Selassis, Assarate Kassa, von den Putschisten ermordet und dessen Sohn, Asfa-Wossen Assarate, zum Aufenthalt im Exil in Deutschland verdammt, wo dieser später als Publizist bekannt wurde.
In der Folgezeit hielt der neue Machthaber den 83jährigen Kaiser im Palast unter Hausarrest, wo er am 27. August 1975 unter mysteriösen Umständen verstarb. Schenkt man dem Bericht eines kaiserlichen Dieners Glauben, wurde Haile Selassie mit einem Kopfkissen erstickt. Anschließend wurde seine Leiche unter den Dielen einer Palasttoilette verscharrt. Dort verblieben die Gebeine des Löwen von Juda 25 Jahre lang, bis sie im November 2000 feierlich in die Familiengruft in der Dreifaltigkeitskirche umgebettet wurden.
Foto: Der äthiopische Kaiser Haile Selassie von Äthiopien, April 1974: Modernisierung und Despotismus