Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre befand sich die stalinistische Sowjet-union in der Ära eines allgegenwärtigen, heftig ausgetragenen „Kalten Krieges“, der jederzeit in einen Dritten Weltkrieg umzuschlagen drohte. Die Sowjetunion brach in einer gewaltigen intellektuellen und wirtschaftlichen Anstrengung – und natürlich durch die Beschaffungserfolge des sowjetischen Geheimdienstes –, das bis 1949 bestehende US-Monopol auf Atomwaffen.
Staats- und Parteichef Stalin glaubte sich nämlich in seiner Paranoia wie bereits schon vor dem Zweiten Weltkrieg von einer Welt von Feinden umringt. Neben dem Ausbau der Streitkräfte liefen deswegen innerhalb der Sowjetunion immer neue Repressionswellen an, um vermeintliche innere Feinde und Spione unschädlich zu machen. Dazu zählten für Stalin neben der „Intelligenzija“ und vielen Kulturschaffenden namentlich die sowjetischen Juden (JF 3/23). Als Stalin am 5. März 1953 für die breite Öffentlichkeit unverhofft an einer Gehirnblutung verstarb, entschied der von seinem Widerpart, dem Geheimdienstchef und Ersten stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Lawrenti Beria gröblich unterschätzte Moskauer Parteichef Nikita Chruschtschow den Kampf um die politische Nachfolge Stalins für sich.
Die Zeit des Stalin-Regimes wurde nunmehr nach Stalins Tod innerhalb der sowjetischen Bevölkerung als eine Art von „bleierner Zeit“ angesehen, und insgeheim hoffte man man auf eine „neue Zeit“, in der vieles besser werden sollte, vom Lebensstandard über die Versorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern bis hin zum Abbau der gröbsten Repressalien und Auswüchse des Stalinismus. Ausgerechnet ein 1891 im ukrainischen Kiew geborener, heute nur noch wenig gelesener jüdisch-sowjetischer Schriftsteller namens Ilja Ehrenburg sollte mit einem seiner schwächsten literarischen Werke dieser allgemeinen Erwartung Ausdruck verleihen. Es handelte sich um seine Erzählung „Tauwetter“ (russisch „Ottepel“), welche zuerst im April 1954 im literarischen Journal Znamja und anschließend im September 1954 in Buchform erschien. Um diesen Kurzroman entwickelte sich sogleich eine stürmische Diskussion in der Öffentlichkeit, weil sowjetische Offizielle, darunter der namhafte Schriftsteller und Literaturfunktionär Konstantin Simonow, in dem einstigen Stalinschen Propagandisten und Günstling Ehrenburg eine Art von politischem Wendehals erblickten, der die Zeiten des Stalinismus schlechtschreiben wollte.
Doch das literarische Publikum in der Sowjetunion sah in „Tauwetter“ genau das, was Ehrenburg darin niederschrieb, nämlich eine Abkehr von den gewohnten stalinistischen Methoden, also de facto die Einleitung einer stillschweigenden Destalinisierung. Ehrenburg schrieb seine Erzählung blitzschnell im Winter 1953/54 nieder und gab sie sogleich zur Publikation frei. Die Handlung war eigentlich ganz trivial und spielte in einer fiktiven, irgendwo an der Wolga gelegenen Provinzstadt, in der sich ein großes Maschinenbaukombinat befand. Hier herrschte allgewaltig der stalinistische Bürokrat Schurawljow, welcher zugleich der Werksdirektor ist. Um den Plan zu erfüllen, werden die für Werkswohnungen vorgesehenen Gelder kaltherzig in Investitionen für die Produktion umgewandelt.
Gleichzeitig werden alle Künstler als unnütze Esser sowie die jüdischstämmige Ärztin Vera Scherer wegen deren Herkunft verfolgt. Letzteres ist typisch für das Denken Ehrenburgs, der sich als Künstler zunehmend gegängelt fühlte und wegen seiner eigenen jüdischen Herkunft lange Zeit täglich mit seiner Verhaftung rechnete. Doch schließlich tritt im Roman das langersehnte „Tauwetter“ ein. Im fernen Moskau erfolgen politische Veränderungen. Der stalinistische Funktionär Schurawljow verliert an Macht, die Künstler und Juden werden nicht mehr verfolgt, und für das einfache Volk besteht nunmehr die Aussicht, daß sich die Lebensumstände zum Besseren wandeln.
Foto: Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg in seiner Datscha bei Moskau, um 1956: Triviale Handlung