Auch ein Jahr später hatte Henry Morgenthau junior noch nicht genug. „Seit die Menschheit denken kann, erinnert sie sich an deutsche Eroberungswut“, phantasierte der frühere US-amerikanische Finanzminister 1945 in einem Rechtfertigungsband für seinen „Morgenthau-Plan“, den er vor achtzig Jahren im Herbst 1944 präsentiert hatte. „Deutschland ist unser Problem“, so lautete der Titel. In wortreichen Ausführungen suchte Morgenthau darin zu begründen, wie die Deutschen künftig ohne Industrie und in einem Agrarland ein auskömmliches Dasein finden würden. Sollte angesichts des von ihm geplanten Abbaus und Abtransportes sämtlicher deutscher Produktionsmittel nicht jeder Deutsche sofort eine Arbeit finden können und Hunger leiden, so wäre Zwangsarbeit im Ausland eine passende und humanitäre Lösung. Aus dem Gewinn dieser Arbeit könnten denn auch gleich angemessene Reparationsleistungen herausgezogen werden.
Umerziehung, Aufteilung, Enteignung sämtlichen Auslandsvermögens, Vertreibung, künftige Regierung durch internationale Organisationen: Der Morgenthau-Plan enthielt ein breites Spektrum dessen, was später mit Deutschland und den Deutschen tatsächlich geschehen sollte. Territorial wäre Gesamtdeutschland nach dessen Vorstellungen vergleichsweise günstig davongekommen. Pommern, Ostbrandenburg und ein großer Teil Schlesiens sollten bleiben, mit Österreich immerhin jene Zollunion bestehen, die in den 1920ern von den Westmächten so vehement bekämpft worden war.
Roosevelts Tod im April 1945 nahm Morgenthau jeden Einfluß
US-Präsident Franklin D. Roosevelt hatte die Vorstellungen seines damaligen Finanzministers zunächst genehmigt, nahm aber von bestimmten Gedankengängen und vom Gesamtplan bald darauf Abstand. Roosevelts Tod am 12. April 1945 beeinflußte nicht mehr den Krieg, aber ganz sicher den Nachkrieg. Er nahm Morgenthau endgültig den Einfluß, seine geplanten Maßnahmen durchsetzen zu können. Harry Truman, der neue Präsident, kehrte in der Deutschlandfrage wenigstens in gewissem Umfang zur Realpolitik zurück. Die Vernichtungsabsichten der engeren Beratergruppe um Amtsvorgänger Roosevelt trafen bei ihm nicht mehr auf Gehör. Morgenthaus Kollege Samuel Rosenman, dem lange Jahre das Ohr des Präsidenten gehört hatte, erachtete in London gerade zwanzig Millionen Deutsche weniger für künftig angemessen, als ihn die Nachricht vom Ableben des Präsidenten erreichte. Er behielt zwar bis 1946 weiter seinen Job als erster Rechtsberater des Weißen Hauses, den gewohnten Zugang zum neuen Präsidenten erlangte er aber nicht mehr.
Einige Jahre danach folgte bekanntlich der Aufstieg Bundesdeutschlands zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt und einem nützlichen Verbündeten der Vereinigten Staaten. Morgenthaus Pläne schienen endgültig Geschichte zu sein, bis heutige Berliner Wirtschaftspolitik die Stichworte „Morgenthau“ und „Deindustrialisierung“ wieder deutlich aktueller werden ließ. Besondere Kontiunität gibt es aber sicherlich in den verworrenen Vorstellungen über vergangene deutsche Kriegslust, die immer noch eine aktive Rolle im Rahmen der deutschen Selbstzerstörung spielen. Es ist wohl noch immer nicht genug.