© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/24 / 13. September 2024

Der Flaneur
Es ist eine Schande
René Langner

Endlich jemand, der deutsch spricht.“ Als ich mich zu der Stimme umdrehe, hält mir der junge Mann bereits die Hand entgegen: „Ich bin Emir, und das ist meine Frau Alina. Ich hoffe, Sie können uns helfen.“

Am Akzent erahne ich, daß die beiden aus der Gegend Köln kommen müssen. Im Gegenzug ist wohl nicht zu überhören, daß unsere Heimat in Sachsen liegt. Obwohl ich in solchen Situationen – besonders wenn man im Ausland ist – eher mißtrauisch agiere, komme ich diesmal nicht umhin, als die freundliche Begrüßung zu erwidern.

„Wir wollen nach Massa. Scheinbar fahren alle Züge aber nur in die entgegengesetzte Richtung.“ Man könnte meinen, er hat recht: Der Bahnhof der ligurischen Hafenstadt La Spezia ist Dreh- und Angelpunkt für Ausflüge zu den fünf Nachbargemeinden an der italienischen Riviera namens Cinque Terre. 

„Ich würde ja nachfragen, aber ich spreche kein Italienisch. Und mit Türkisch komme ich nicht wirklich weit“, ergänzt er mit einem breiten Grinsen. Während meine Familie gemeinsam mit seiner Frau, die unverkennbar schwanger ist, am Bahnsteig zurückbleibt, machen Emir und ich uns auf den Weg zum Ticketschalter. Trotz meines sicher nicht perfekten Englisch haben wir nach wenigen Minuten alle Infos sowie die passenden Tickets für die Weiterfahrt zusammen.

„Die lachen sogar mich aus“, meint der junge Türke, „wir jedenfalls wollen am liebsten nur noch weg.“

Zurück an den Gleisen tauschen wir uns noch ein wenig aus. Als wir auf Deutschland zu sprechen kommen, wird Emir sehr direkt: „Es ist eine Schande, was ihr mit eurer Heimat macht.“ Bevor ich antworten kann, ergänzt er: „Ich bin selbst Ausländer und vor knapp dreißig Jahren mit meinen Eltern eingereist. Damals war das alles völlig anders. Es gab Regeln und Pflichten. Wer es zu etwas bringen wollte, der mußte fleißig sein. Und heute?“

Er macht eine Pause und legt dann nach: „Heute kommen fast nur noch Leute, die keine Lust und null Respekt haben. Die lachen sogar mich aus.“ Etwas irritiert versuche ich mich zu rechtfertigen: „Einverstanden mit der aktuellen Politik ist in meinem Umfeld auch so gut wie niemand.“

Er deutet auf Alinas Babybauch: „Wir jedenfalls wollen am liebsten nur noch weg.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Wenigstens laßt ihr euch im Osten nicht alles gefallen.“



Das Vaterland will bedient sein, nicht beherrscht.

Otto von Bismarck (1815–1898)