© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/24 / 20. September 2024

Wenn Schuldendämme brechen
Draghi-Papier: Marode Infrastruktur und Wirtschaft lassen sich nicht mit noch mehr Brüsseler Dirigismus retten
Ulrich van Suntum

Der Brückeneinsturz in Dresden weckt böse Erinnerungen an das italienische Genua, wo die vierspurige Morandi-Autobahnbrücke 43 Menschen in den Tod riß. Reines Glück und die Uhrzeit verhinderten, daß diesmal im Elbflorenz niemand verletzt wurde. Der Zustand der einst so gelobten deutschen Infrastruktur nähert sich immer mehr dem in Italien. Gleichsam paßt sich die Wirtschaftskraft Deutschland innerhalb der EU eher den anderen Mitgliedsstaaten an als andersherum.

Der maroden europäischen Infrastruktur beikommen will jetzt der italienische Ex-Ministerpräsident und ehemalige EZB-Chef mit einer fulminanten Analyse, in der er viele Probleme der EU benennt. Aber die Abhilfe, die er vorschlägt, beinhaltet ein Mehr der alten Lösungen. Mehr Schulden. Mehr Dirigismus. Mehr Bürokratie.

An großen Worten und hehren Zielen fehlte es in der EU nie. Man wolle die „wettbewerbsfähigste und dynamischste Region der Welt werden“, hieß es im März 2000 auf dem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs in Lissabon. Auch im Nachfolgeprogramm „Europa 2020“ wurde zwar etwas vorsichtiger nur noch ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ angestrebt. Nach wie vor glaubte man aber, mit planwirtschaftlichen Zielvorgaben zum Erfolg zu kommen.

Neben ökonomischen Kennziffern wie der anzustrebenden Beschäftigungsquote und den Forschungs- und Entwicklungsausgaben traten dabei zunehmend auch soziale und ökologische Ziele in den Vordergrund. Der sogenannte „Green Deal“ von 2019 konzentrierte sich sogar ganz darauf. Er enthielt nicht nur die Vorgabe, bis 2050 klimaneutral zu werden, sondern auch detaillierte Vorgaben für jeden einzelnen Sektor und jede Region. Zugleich behaupteten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihre Mitstreiter kühn, damit würden automatisch mehr Beschäftigung, Wirtschaftswachstum und Wohlstand generiert werden.

Der von Draghi vorgelegte Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU räumt die Fehler schonungslos ein. Die Union werde nicht in der Lage sein, ihre hochtrabenden Ziele zu erreichen, heißt es in dem 400seitigen Werk. Von der Leyen hatte ihn vor einem Jahr in Auftrag gegeben.

Vielmehr müßten wir „einige, wenn nicht sogar alle unsere Ambitionen zurückschrauben.“ In der Tat ist die ökonomische Bilanz der bisherigen Brüsseler Politik vernichtend. Gegenüber allen globalen Konkurrenten hat die EU laut dem Bericht in den letzten zwanzig Jahren deutlich an Boden verloren. So sei das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen. Und Besserung ist nicht in Sicht: Gerade erst hat die EZB ihre Wachstumsprognose für die Eurozone nochmals gesenkt – auf winzige 0,8 Prozent.

Das größte Sorgenkind ist dabei der frühere Musterschüler Deutschland. Traditionsunternehmen ziehen ins Ausland. Die Infrastruktur zerbröckelt. Und die Produktivität stagniert, trotz einer zunehmenden Zahl der Erwerbstätigen. Hierzulande erwartet das Münchener Ifo-Institut inzwischen nur noch Stillstand im laufenden Jahr. Im Draghi-Bericht wird die zu geringe Produktivität für das Desaster verantwortlich gemacht. Zu 70 Prozent sei die Lücke im Pro-Kopf-Einkommen darauf zurückzuführen. Draghi folgert daraus die Notwendigkeit einer stärkeren Förderung von zukunftsweisenden Technologien.

Letztlich ist Produktivität allerdings nur eine schlichte ökonomische Kennzahl, welche die Wirtschaftsleistung zur Zahl der Erwerbstätigen in Beziehung setzt. Die eigentlichen Ursachen für die europäische Wachstumsmisere liegen aber tiefer. Und sie haben gerade auch viel mit der technologischen und ökologischen Planungswut der Brüsseler Bürokraten zu tun.

So sind inzwischen die Strompreise in der EU zwei- bis dreimal so hoch wie in den USA, die Gaspreise liegen sogar beim Vier- bis Fünffachen. Kein Wunder also, daß die Produktion der energieintensiven Industrien seit 2021 um zehn bis fünfzehn Prozent zurückgegangen ist. Auch Draghi sieht die Gefahr einer Deindustrialisierung Europas.

Er will ihr aber mit den altbekannten Rezepten beikommen: kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten, mehr Fördergelder, Bevorzugung heimischer Industrien bei öffentlichen Aufträgen und notfalls sogar Zölle. Auch für die prekäre Lage der Automobilindustrie setzt er auf altbackene Rezepte. Ein neuer „Planungskoordinator“ und ein „industrieller Aktionsplan für den Automobilsektor“.

Ohnehin müssten noch mehr Kompetenzen auf die EU-Ebene verlagert werden. Dafür will er die Verträge ändern. Mitgliedstaaten sollen auf ihr Vetorecht verzichten. Zu allem Überfluß bringt er auch seine alte Lieblingsidee von gemeinschaftlichen Schulden ins Gespräch. Damit sollen Investitionen bis zu 850 Milliarden Euro finanziert werden – pro Jahr! Zwar winkte Finanzminister Christian Lindner sofort ab: Das könne man kurz so zusammenfassen, daß Deutschland (mal wieder) für andere bezahlen solle. Erfahrungsgemäß ist die Halbwertszeit solcher Dementis allerdings kurz.

In der EU fehlt es an vielem, aber wahrlich nicht an Geld. Stolze 328 Milliarden Euro beträgt ihr aktuelles Haushaltsbudget. Knapp ein Drittel fließt in den Klimaschutz. Dazu kommen noch die Erlöse aus dem Zertifikathandel und die nationalen Aufwendungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Die wahren Kosten dürften sogar noch um ein Vielfaches höher sein. Denn auch Unternehmen und Bürger werden durch die Brüsseler Klimagesetze zu versteckten Ausgaben gezwungen.

Allein in diesem Bereich ließen sich daher geradezu phantastische Summen einsparen. Denn während die EU-Staaten zwischen 1990 und 2022 ihre Treibhausgas-Emissionen um 31 Prozent gesenkt hat, sind sie weltweit im gleichen Zeitraum um 67 Prozent gestiegen. Daß eine solche, selbstmörderische und ökologisch nutzlose Politik so nicht weitergehen kann, sieht auch der Draghi-Bericht ein.

Immerhin will er die Kosten durch geringere Energiesteuern, den Einsatz von Atomenergie und CO2-Abscheidung abmildern. Das Klimaziel selbst stellt er aber nicht in Frage. Und nach wie vor soll unsere Lage vor allem durch noch mehr Planung, Staatseingriffe und mehr Geld erreicht werden. Das werden die EU-Parlamentarier gern umsetzen, trotz aller negativen Erfahrungen mit diesem sozialistischen Instrumentenkasten. Ökonomische Inkompetenz ist eben kein Hinderungsgrund für eine EU-Karriere – Hauptsache, man kann sie in drei Amtssprachen unter Beweis stellen.



Prof. Dr. Ulrich van Suntum lehrte von 1995 bis 2020 VWL an der Wilhelms-Universität Münster.