Die eingestürzte Carolabrücke im Zentrum Dresdens ist zum gefragten Fotomotiv mutiert – begehrter als die Frauenkirche. Ist zweitere das Wahrzeichen der innerdeutschen Solidarität beim Wiederaufbau, so ist die seit einer Woche in der Elbe liegende und vom Hochwasser umspülte Spannbetonbrücke Symbol für den maroden Ist-Zustand eines Landes, das einmal Exportweltmeister war und aktuell vor allem in Sachen Deindustrialisierung von sich reden macht.
Stellenstreichungen bei Großkonzernen. Deutsche Traditionsunternehmen wachsen vielfach nur noch im Ausland. Stattdessen herrscht Stillstand und Bürokratie. „Die Politik hat sich jahrelang auf einer hohen Wirtschaftskraft ausgeruht und damit langfristigen und nachhaltigen Wohlstand gefährdet“, schreibt die ibau GmbH München, ein Informationsdienst für Ausschreibungen und Vergaben im öffentlichen sowie gewerblichen Sektor, in einer Analyse. „Das Verkehrschaos, das teilweise schon besteht und in den nächsten Jahren mit noch größerer Wucht auf uns zukommt, hat einen eindeutigen Grund: Grobe Vernachlässigung“, heißt es unter Verweis auf die Studie „Risikofaktor Brücken“.
Natürlich stimmt es nicht, daß die Union, wie Jens Spahn im Bundestag behauptet hat, der Ampelregierung „ein Land im Wachstum übergeben“ habe und erst Scholz & Co. „daraus ein Land der Krise gemacht“ hätten. Auch die CDU/CSU unter Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich mehr um das Wohl des Auslands gesorgt, als innerstaatliche Probleme anzupacken. Das bald schon zum Sprichwort mutierte Beispiel dafür ist die Deutsche Bahn. Der staatsseigene Infrastrukturkonzern, der gerade mit DB-Schenker – der einzigen noch profitablen Sparte – sein Tafelsilber an ein dänisches Unternehmen verscherbelt hat, ist seit Jahrzehnten ein Milliardengrab.
Nach dem Brückeneinsturz sucht Dresden einen Prüfer
Der Einsturz der zentralen Verkehrsader einer 500.000-Einwohner-Stadt ausgerechnet im Land der Ingenieure dürfte im Ausland für ungläubiges Kopfschütteln gesorgt haben. Daß dabei niemand verletzt wurde, ist ein glücklicher Zufall – acht Minuten vor dem Zusammenbruch querte noch eine Straßenbahn die Brücke. Es geht um ein systematisches Versagen des Staates im allgemeinen und der Stadt Dresden im besonderen. Denn der marode Zustand der Carolabrücke – wie der Tausender anderer Infrastrukturbauwerke in Deutschland – war bekannt, auch wenn die Stadtverwaltung erst Stunden nach dem Einsturz eine Stellenausschreibung nach einem „Brückenprüfingenieur/-in (m/w/d)“ schaltete.
In Hamburg wurde nach dem Vorfall in Dresden die Sperrung der Norderelbbrücke ausgeweitet. Brückenexperten hatten hier bereits im Sommer bei einer Routineprüfung Schäden erkannt. Es sei keine „akute Gefahr in Verzug, aber wir müssen jetzt tätig werden“, teilte Carsten Butenschön von der Autobahn-Gesellschaft mit. Die Elbe querten hier über die A1 bei einer Zählung im Jahr 2010 über 100.000 Kraftfahrzeuge täglich.
Bis zu 11.000 der rund 39.500 für den bundesweiten Verkehr besonders wichtigen Autobahn- und Fernstraßenbrücken gelten als dringend sanierungsbedürftig. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) sprach Anfang des Jahres noch von 4.000. Dabei ist der Sanierungsstau im Westen größer als im Osten, wo seit der Wiedervereinigung zahlreiche Brücken errichtet wurden. Allerdings wurde bei deren Projektierung mit weniger Verkehr und teils leichteren Fahrzeugen gerechnet, so daß vielerorts bereits Materialermüdung festgestellt wurde.
Brückenprüfungen erfolgen in Deutschland gemäß DIN 1076. Durch sie soll die Standsicherheit, Traglastfähigkeit und verkehrssichere Nutzung des Bauwerks sichergestellt werden. Dazu werden Brücken alle sechs Jahre einer Hauptprüfung unterzogen, alle drei Jahre einer einfachen Prüfung, und jährlich werden sie gesichtet. Die Prüfer vergeben beim Brücken-Tüv Noten zwischen 1 und 4 (siehe Grafik). Ab einer Note 3,5 spricht man von einem ungenügenden Zustand. Soweit das Brückeneinmaleins. Denn um selbst bei schlechtester Note eine Brücke nutzen zu können, werden einfach Auflagen beschlossen. Nach dem Vorbild sozialistischer Mangelwirtschaften werden Probleme nicht an der Wurzel angepackt, sondern es wird versucht, die Lösung mittels Tempolimit, Mindestabstandsregeln oder Lkw-Fahrverboten in die Zukunft zu verschieben.
Verkehrsministerium muß die Zahl maroder Brücken korrigieren
Die Wehrbrücke nahe Neckarsulm wurde beispielsweise lediglich für Lkw über 3,5 Tonnen gesperrt und wird seither mit Hilfe modernster Diagnosetechnik und Sensorik täglich überwacht. Erst in fünf bis zehn Jahren soll es eine Ersatzbrücke geben. 400 Brücken im Jahr zu sanieren, und zwar nach der „sinnvollsten Reihenfolge“, hat sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) beim ersten „Brückengipfel“ 2022 vorgenommen, wissend, daß auch das schon ein sehr ehrgeiziges Vorhaben ist. Ein Jahr später moserte denn auch der Grünen-Bundestagsabgeordnete Stefan Gelbhaar gegen den Koalitionspartner: Statt 400 Brücken schaffe die Autobahn GmbH „aktuell nicht einmal die Hälfte“.
In deren Statitsik sind in der Bewertung von Brücken sechs Noten eingeführt. Danach sind, Stand März 2024 knapp über 27 Prozent nur in „ausreichendem“ (23,1), „nicht ausreichendem“ (4) und „ungenügendem“ (0,4) Zustand.
Rechnet inzwischen der Bund mit bis zu 5.000 zu sanierenden Brücken im Autobahn- und Fernstraßennetz, so müssen aus Sicht des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) gut 11.000 saniert oder ersetzt werden. Insgesamt handele es sich um 8.083 Autobahnbrücken sowie gut 3.000 an Bundesstraßen. Deren Instandsetzung sei wichtiger als der Aus- und Neubau, der nicht zu mehr Mobilität, sondern nur für mehr Verkehr sorge, so die Umweltorganisation. Die Regierung würde ein „drohendes Desaster bagatellisieren und die Lösung vertagen“.
Die Zahl der zu sanierenden Autobahnbrücken hat das Bundesverkehrsministerium inzwischen entsprechend der BUND-Berechnungen nach oben korrigiert. In seiner Antwort auf eine Anfrage des BSW ist von 8.000 Brücken die Rede. Weiter heißt es, der Bund drohe sein Ziel, „bis 2032 alle maroden Brücken in besonders wichtigen Teilen des Autobahnnetzes modernisieren zu lassen“ zu verfehlen, hieß es in einer Mitteilung des Bundesrechnungshofes vom Januar 2024. Der Sanierung sei aber Vorrang einzuräumen, sonst müsse mit weiterem Verfall und Sperrungen gerechnet werden.
Ende 2021 mußte die A45-Talbrücke Rahmede bei Lüdenscheid in NRW einsturzgefährdet gesperrt und 2023 gesprengt werden. Der erste Teilabschnitt eines Neubaus soll frühestens 2026 fertig sein. Bis dahin leidet die regionale Wirtschaft. Allein für die Region um Lüdenscheid addierten sich „die negativen Effekte durch die Brückensperrung in den nächsten fünf Jahren auf mindestens 1,8 Milliarden Euro“, heißt es in einer „ökonomischen Schadensbetrachtung“, die das Institut der deutschen Wirtschaft 2022 vorlegte: „Jedes Jahr, in dem die Brücke früher fertiggestellt werden kann, werden Summen in dreistelliger Millionenhöhe eingespart.“
So wird auch klar: Jedes Jahr, in dem eine sanierungsbedürftige Brücke noch genutzt werden kann, hilft dem Bund beim Wirtschaften. Ende Mai 2024 wurde getestet, was die Moseltalbrücke, eine 136 Meter hohe Brücke der Autobahn 61, noch aushält: 24 knallrote Lastwagen, insgesamt 960 Tonnen schwer, wurden auf dem Bauwerk dicht an dicht geparkt. Grund waren Anfang des Vorjahres entdeckte knapp einen Kilometer lange Risse in der Stahlkonstruktion.
Nicht besser sieht es bei der Deutschen Bahn aus, wo von rund 25.710 Brücken des Schienennetzes unverändert mehr als 1.000 als dringend sanierungsbedürftig gelten. Trotzdem bescheinigt sich der Konzern, der „Zustand der Eisenbahnbrücken ist kontinuierlich als gut zu bewerten“. Das Durchschnittsalter sämtlicher Brücken liegt inzwischen bei fast 74 Jahren. Mehr als 11.000 sind älter als 100 Jahre, allerdings liegt das durchschnittliche Lebensalter von Eisenbahnbrücken bei 122 Jahren.
Zwischen 2015 und 2019 seien 900 Eisenbahnbrücken erneuert worden, bis 2029 sollen es insgesamt 2.000 Brücken sein, teilt die Bahn im Juli mit. Dafür stehen neun Milliarden Euro zur Verfügung. Bei den 1.064 Brücken in der Kategorie 4 sei es laut Bahn wirtschaftlich sinnvoller, das Bauwerk komplett zu ersetzen. Allerdings könne die Verweildauer in der Zustandskategorie 4 – abhängig vom Schadensbild – 15 Jahre und länger sein: „Die Zustandskategorie trifft keine Aussage über die Betriebssicherheit.“ Offenbar hat sich die Zahl noch einmal erhöht. Denn in einer aktuellen Anfrage des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) geht das Bundesverkehrsministerium sogar von 1.160 Brücken aus, die zu ersetzen sind, sowie von 17.636 zu sanierenden Kilometern. Selbst Brücken der schlechtesten Zustandskategorie seien für die Nutzung des Eisenbahnbetriebs sicher, schreibt die Bahn. Neben der Sanierung investiere man in neue Brücken auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken, um Kurven zu vermeiden.
Aber nicht nur Brücken, auch 7.112 Kilometer Autobahn sind sanierungsbedürftig, 2018 waren es lediglich 5.797. Bedauernswert ist ebenso der Zustand der Bundeswasserstraßen. Schleusen, Wehre und Brücken sind vielerorts in einem desolaten Zustand. Vom seit 2019 existierenden „Masterplan Binnenschiffahrt“ ist wenig umgesetzt. Ein kurz- bis mittelfristiger Handlungsbedarf besteht an rund 70 der 307 Wehre, an 130 von rund 315 Schleusen und 160 Brücken. Auch die rund 14.000 sanierungsbedürftigen Brücken in Trägerschaft der Kommunen müssen instand gesetzt werden.
Der Politik waren andere Themen lieber – Infrastruktur kam hintan
Die Probleme sind allerdings hausgemacht, wie das Beispiel der Dresdener Carolabrücke zeigt. Bereits im Sommer 2023 warf der Stadtrat Holger Zastrow dem grünen Baubürgermeister Stephan Kühn vor, die „Brücken vergammeln“ zu lassen, was jener in einem inzwischen gelöschten Post von sich wies. Eine derartige Behauptung entbehre „jeder sachlichen Grundlage“, wehrte sich der Autobahngegner dort. Zastrow hatte ausdrücklich auch die Carolabrücke genannt. Nach dem Brückeneinsturz sprach er gegenüber der JF von einem „Versagen von Politik und öffentlicher Hand“. Die Staatsregierung und die Rathausspitze kümmere sich „um alles Mögliche, bloß nicht ums Wesentliche wie die Grundlagen unseres Gemeinwesens“.
Die Hauptkritik richtet sich an Kühn, einen studierten Soziologen, der seinen Bürgermeisterposten nicht wegen seiner Sachkenntnisse, sondern wegen seines Parteibuchs erhalten hat. Dieser mißbrauche die Dresdner Brücken für „Verkehrsversuche“, die dem Fahrradverkehr Vorrang geben sollten und die beide abgebrochen werden mußten: der an der berühmten Stahlbrücke „Blaues Wunder“ wegen kilometerlanger Staus und Bürgerprotesten. Und der am 2. September an der Carolabrücke gestartete und von Kühn persönlich beworbene wegen des Einsturzes des Versuchsobjektes am 11. September.
Aber Kühn kann sich darauf berufen, nur umzusetzen, was eine links-grüne Stadtratsmehrheit im Februar 2024 beschlossen hat: die „nachhaltige Umgestaltung der städtischen Infrastruktur“, damit Dresden bis 2035 klimaneutral ist. Ein Antrag der konservativen Freien Wähler vom Juni dieses Jahres, den Zustand aller Dresdner Brücken zu erfassen, paßte da nichts ins Konzept, sondern wurde abgeschmettert: Warum sollte man die Öffentlichkeit beunruhigen? Dresdens marode Brücken würden schon aus Gewohnheit halten. Die 400 Meter lange Hohlkastenspannbetonbrücke, 1971 als Ersatz für eine 1945 von der SS gesprengte Brücke errichtet, tat der Rathausspitze diesen Gefallen nicht. Seit ihrem Einsturz wird darüber gerätselt, was letztlich der Auslöser war: die schwere Tram, die die Brücke querte, der Temperatursturz? Jedenfalls hat kein einziges Alarmsystem gegriffen, das signalisieren soll, wenn ein Zusammenbruch unmittelbar bevorsteht. Bauexperten sprechen von einem „unkontrollierten Versagen“ des Bauwerkes. Ob die beiden noch stehenden Brückenzüge abgerissen werden müssen, wird derzeit untersucht. Beide waren zwischen 2021 und Anfang Juni 2024 saniert worden.
Auf mehr als 100 Millionen Euro werden die Kosten für Abriß und Neubau geschätzt. Vom Bund kamen aus dem Wirtschaftsministerium und dem Umweltministerium Unterstütungszusagen für den Wiederaufbau. Die Regierung lasse nicht zu, daß Deutschland zerbrösele: „Wenn es doch irgendwo hake, werde man das lösen.“
Selbst wenn es dabei bleibt, daß ab 2025 für die Sanierung von Autobahnen, Fernstraßen und der dazugehörigen Brücken jährlich fünf Milliarden Euro – in diesem Jahr sind es 4,6 Milliarden – im Bundeshaushalt eingestellt werden, hilft das angesichts steigender Baupreise nicht.
Foto: Die eingestürzte Carolabrücke in der Innenstadt Dresdens: Die Sanierung war erst auf das kommende Jahr festgelegt. Dem wachsenden Bedarf der Instandsetzung der Infrastruktur kommen Bund und Kommunen nicht nach
Instandsetzung der Autobahnbrücken
Die mit der Renovierung der Autobahnbrücken beauftragte „Autobahn GmbH“ kommt den erhöhten Forderungen des Verkehrsministeriums (BMDV) kaum nach. Gezählt werden hier die Teilbauwerke. Oft besteht eine Autobahnbrücke aus zwei Teilbauwerken.
Mängel der Fernstraßenbrücken
So ist der Zustand der knapp 40.000 Brücken im Fernstraßennetz (März 2024, in Prozent). Viele Bauwerke aus den 70er Jahren haben ihre Haltbarkeitsgrenze erreicht. Die eingestürzte Carolabrücke beurteilte die zuständige Behörde BAST mit der Note „nicht ausreichend“ (3 bis 3,4)
Grafiken, siehe PDF Ausgabe