Vor dem Chemie- und Pharmagipfel am 12. September in Berlin legte der Verband der Chemischen Industrie (VCI) seinen Quartalsbericht mit dem Titel „Chemie und Pharma mit Gegenwind“ vor. Der Gesamtumsatz der Branche ging gegenüber dem Vorjahresniveau bei leicht gestiegenem Absatz und sinkenden Preisen zurück. In Deutschland liegt die Kapazitätsauslastung der Branche nur noch bei 75 Prozent. Das ist nichr rentabel: Standorte wie BASF in Ludwigshafen schreiben Milliardenverluste.
Inzwischen erwägen schon vier von zehn Industrieunternehmen, die Produktion weiter zu drosseln oder ins Ausland abzuwandern. Die Firmen müßten Preise senken oder Produktionsanlagen dauerhaft stillegen und sich aus unrentablen Geschäftsfeldern zurückziehen. Die von der Ampel geplanten Änderungen im Strommarkt, die Produktion abhängig von Wind und Wetter zu drosseln oder hochzufahren, ist schwer möglich und teuer. „Chemieanlagen sind kein Herd, den man einfach an- und ausschalten kann“, so der VCI-Experte Matthias Belitz im Gespräch mit Journalisten.
VCI-Präsident Markus Steilemann, Vorstandsvorsitzender des von Bayer abgespaltenen und in Übernahmeverhandlungen befindlichen Polymerherstellers Covestro, wandte sich vor dem Treffen in einem Brandbrief an die Bundestagsabgeordneten und Partei- und Fraktionschefs – mit Ausnahme der AfD: „Deutschland befinde sich in Herbststimmung – die Wirtschaft stagniere, in der Politik herrsche Streit, in der Gesellschaft Unzufriedenheit. Es schwinde die Zuversicht, daß das ‘Geschäftsmodell Deutschland’ dem globalen Wettbewerb dauerhaft standhalten kann.“ Gerade die mittelständischen Unternehmen würden immer stärker unter „den hohen Energiekosten, unnötiger Bürokratie, zu langsamen Genehmigungsverfahren und einer in vielen Bereichen nur noch mittelmäßigen Infrastruktur“ leiden. Es brauche daher eine „Kernsanierung des Wirtschaftsstandorts“. Doch die Ampel versteht darunter Dekarbonisierung, die schon unter Angela Merkel begonnen wurde.
Ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung akut bedroht?
Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte auf dem Chemie- und Pharmagipfels, die Sorgen der Branche nun erkannt zu haben: „Deutschland ist ein zentraler Standort für die Chemieindustrie in der Welt. Und ich will, daß das so bleibt“. Mit den Einstiegssätzen „Chemie ist der Anfang von allem“ und „Ohne Chemie gibt es kein Leben und keine Industrie“ stellte er einen Fünf-Punkte-Plan vor. Das auf EU-Ebene drohende Verbot von per- und polyfluorierten Alkylverbindungen (PFAS), bekannt als Ewigkeitschemikalien, solle abgemildert und bürokratische Hürden abgebaut, ein Pakt für Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung beschlossen werden. Es sei vorgesehen, EU-Regeln für Deutschland nicht noch weiter zu verschärfen, sondern sie lediglich eins zu eins umzusetzen. Die EU-Lieferkettenrichtlinie solle so umgesetzt werden, daß eine Entlastungswirkung erzielt würde. Die Weltoffenheit würde verteidigt und weiterhin qualifizierte Fachkräfte aus aller Welt nach Deutschland geholt werden. Zudem sollen die Kreislaufwirtschaft und MINT-Berufe in Schulen gefördert werden. Auch die Strompreiskompensation würde bis 2030 verlängert werden.
Friedrich Merz monierte, die überbordende Bürokratie am Standort Deutschland könne nicht durch „kleine Schräubchen“ zurückgedreht werden – doch seine CDU-Europaabgeordneten nicken in Brüssel fast alles ab. Der Atomausstieg sei zwar irreversibel, aber Deutschland würde den Bau von Kernkraftwerken im Ausland gerne unterstützen, um dann den Strom von dort zu beziehen. Das klingt nach Schwarz-Rot/Grün ab 2025.
Der VCI kritisierte am Fünf-Punkte-Plan von Scholz vor allem, daß die Energiepreisentlastung nicht weit genug gehe: „Das Ergebnis ist ein erster Schritt. Die Maßnahmen reichen aber nicht aus, um den nötigen Aufbruch hin zu einem starken Chemiestandort zu starten. Ebenso forderte der Verband Klarheit über den wirtschaftspolitischen Kurs der Bundesregierung. „Ich plädiere sehr deutlich für eine Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen“, sagte VCI-Präsident Steilemann. „Wir können keine ideologisch gefärbten Vorgaben und Detailregelungen gebrauchen. Was wir brauchen, ist unternehmerische Freiheit in einem Spielfeld, das wir selbst am besten kennen.“
Der Chef der Chemiegewerkschaft BCE, Michael Vassiliadis, kommentierte die diskutierten Maßnahmen enttäuscht: „Die heute auf dem VCI Summit skizzierten Pläne der Bundesregierung zur Stärkung des Chemie-Standorts Deutschland mindern den Überdruck auf dem Kessel im Millibar-Bereich. Mit Blick auf die Arbeitsplätze in dieser deutschen Schlüsselindustrie bringen sie keine Entwarnung“, so das langjährige SPD-Mitglied.
Daß die bereits vor einem Jahr verabredeten Einzelmaßnahmen in konkretes Regierungshandeln umgesetzt werden sollen, sei zu begrüßen. Denn in Deutschland seien ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung akut bedroht; dies gelte ganz besonders für die energieintensive und modernisierungsbedürftige Chemieindustrie, so Vassiliadis. VCI-Präsident Markus Steilemann bedankte sich auf der Bühne ausgiebig bei Scholz, denn „heute ist nicht der Tag, um Forderungen zu stellen“.
CI-Quartalsbericht 2/24: vci.de/ergaenzende-downloads/qb-q2-2024.pdf