© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/24 / 20. September 2024

Vom Fürstenknecht zum frühbürgerlichen Revolutionär
Luther als kulturelle Waffe

Heute ist das Territorium der ehemaligen DDR „eines der atheistischsten beziehungsweise areligiösesten Gebiete der Welt“. Nur im kommunistischen China und in der ehemals sozialistischen Tschechischen Republik liegt der Anteil derer, die sich in Umfragen zu 78 Prozent als irreligiös oder atheistisch einstufen noch höher als im früheren mitteldeutschen „Lutherland“, wo knapp 70 Prozent der Befragten ein Leben ohne religiösen Bezug führen. Im Bundesdurchschnitt sind es aktuell hingegen 48 Prozent. Der markante Unterschied ist für den pseudonymen Autor des konservativ-liberalen Magazins Krautzone (8/9-2024) eine Spätfolge der Kirchenpolitik der SED, die in den 1950ern offen gegen die Evangelische Kirche kämpfte, den Religionsunterricht in den Schulen strich und die Konfirmation durch „Jugendweihen“ ersetzte. In dieser Zeit kurz vor dem Mauerbau erreichte die Zahl der Kirchenaustritte mit 200.000 (1960) ihren Höhepunkt. Erst seit den 1970ern minderte die SED den Druck ihrer Repressionen, weil die den politischen Nutzen der Religion erkannte. Das wirkte sich vor allem im jahrzehntelang geführten Kulturkampf um Martin Luther aus. 1983, zu seinem 500. Geburtstag, verschob sich die marxistische Deutung des Reformators weg vom „Fürstenknecht“ hin zum Protagonisten der „frühbürgerlichen Revolution“. Mit dieser Vereinnahmung habe die DDR Luther als „kulturelle Waffe“ eingesetzt, um sich international als „deutscher Kernstaat“ zu inszenieren. Was nur glaubwürdig wirkte, weil die SED der protestantischen Kirche Freiräume öffnete. Die wiederum zu Schutzräumen für die Systemopposition wurden, die 1989 die  Montagsdemonstrationen inspirierte. (ob)  https://kraut-zone.de