© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

„Milei kann die Welt verändern“
Interview: Der Ökonom Philipp Bagus hat das erste deutschsprachige Buch über Javier Milei vorgelegt. Darin erklärt er, warum der argentinische Präsident eine neue Ära – auch für Deutschland – begründen könnte
Moritz Schwarz

Herr Professor Bagus, Sie sagen, „Präsident Milei ist eine Weltsensation“. Geht’s nicht ein wenig kleiner?

Philipp Bagus: Nein. 

Warum?

Bagus: Weil er der erste anarchokapitalistische Staatschef ist.

Anarcho... was?

Bagus: Der Anarchokapitalismus lehnt den Staat ab, denn seine Essenz sind Zwang und Gewalt; und Steuern sind Raub. 

Auf letzteres könnten wir uns einigen ...

Bagus: Befreit von der Bevormundung einer politischen Kaste, die auf unsere Kosten lebt, sollen die Bürger sich auf Grundlage freiwilliger Kooperation statt eines Staates organisieren – als dezentrale Zivilgesellschaft, in der jeder seines Glückes Schmied ist. Weil der Staat das verhindert, haßt Milei ihn. 

Meint Milei das ernst?

Bagus: Er sagt es ausdrücklich. Allerdings kann man das nicht verstehen, ohne die „Österreichische Schule“ zu kennen, der er anhängt: eine Schule der Nationalökonomie – zu deren Vordenkern etwa Ludwig von Mises oder der Nobelpreisträger Friedrich von Hayek gehören –, die Freiheit „negativ“ versteht: also als die Abwesenheit von Zwang. 

Gibt es denn auch einen „positiven“ Freiheitsbegriff?

Bagus: Ja, nach diesem ist man erst frei, wenn man auch bestimmte Bedürfnisse gestillt hat. Doch ist das in Wahrheit ein korrumpiertes Freiheitsverständnis, das zum Beispiel hinter der Einführung von Quoten steckt, die bestimmte Gruppen – auf Kosten anderer – von „Diskriminierung“ befreien. Oder auch hinter der Idee der „sozialen Umverteilung“, wonach nur frei ist, wer auch Geld zum Leben hat. Wofür dann der Staat sorgen soll, indem er Steuern erhebt, also Menschen etwas unter Zwang wegnimmt, um es zu transferieren. Es ist also gar nicht verwunderlich, daß Milei den Staat haßt, der unter Androhung von Polizei und Justiz permanent die negative Freiheit im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ unterdrückt.

Vielleicht ist es dann keine so gute Idee, sich an die Spitze dieser „Räuberbande“ wählen zu lassen?

Bagus: Eben diesem Widerspruch gehe ich unter anderem in meinem Buch nach: Milei war klar, daß er den Staat nicht würde abschaffen können, denn dazu hat er weder die politischen Mehrheiten, noch als Präsident die Befugnis. Also, und das hat er im Wahlkampf von Beginn an klargestellt, strebt er einen Minimalstaat an – zumindest soweit und so schnell er sich gesellschaftlich durchsetzen läßt.   

Milei schreibt im Vorwort für Ihr eben erschienenes Buch „Die Ära Milei“, er habe dieses „mit großer Freude ... für meinen lieben Freund Philipp“ verfaßt. Wie wird man der „liebe Freund“ des derzeit wohl schillernsten Staatschefs der Welt?

Bagus: Um ehrlich zu sein, erscheint es mir bis heute sehr unwirklich. Nie hätte ich mir träumen lassen, eines Tages mal die private Nummer eines Staatspräsidenten zu haben! Und es wird noch phantastischer, wenn Sie die Hintergründe kennen: Denn man muß wissen, daß Milei eigentlich kein Politiker ist, sondern ein Wirtschaftswissenschaftler, den ich 2021 im Rahmen meines Seminars im Masterstudiengang der Ökonomie der Österreichischen Schule kennenlernte. Wir kamen uns schnell näher, da die Anhänger der Österreichischen Schule ein recht überschaubarer Kreis sind, fast kennt da jeder jeden. Und nun verstehen Sie auch, was für ein absolutes Wunder die Wahl Mileis tatsächlich ist: denn gerade weil wir so ein kleines Grüppchen sind, konnte sich niemand im entferntesten vorstellen, daß einer von uns, ein in der Wolle gefärbter Anarchokapitalist, jemals Staatschef werden würde! Alles, was man zu hoffen wagt, ist, daß ein Politiker vielleicht einmal eines unserer Bücher liest oder sich beraten läßt, um die eine oder andere Idee aufzunehmen, wie etwa damals Margaret Thatcher. 

Wieso ist dieses „absolute Wunder“ dennoch geschehen?

Bagus: Milei beschreibt das zum Teil in seinem Vorwort: Er hatte nie vor, in die Politik zu gehen, doch irgendwann wurde ihm klar, daß viele Anarchokapitalisten im Grunde Fußballfans gleichen, die ihre Seite zwar mit größtem Eifer von den Rängen aus anfeuern – und die Ideen der Freiheit erfolgreich verbreiten –, doch egal wie leidenschaftlich sie das tun, wird diese niemals gewinnen, wenn sich nicht auch jemand findet, der aufs Spielfeld geht und den Ball ins Tor donnert. Aber selbst als Milei sich völlig überraschend dafür entschied, dieser jemand zu sein, hat niemand für möglich gehalten, daß ihm das auch gelingt. Denn er hatte sich zwar bereits als unterhaltsamer, streitlustiger, mitunter unflätig schimpfender Talkshowgast einen Namen gemacht, doch politisch kam er aus dem Nichts: Er hatte keine Bewegung, keine Partei, keine Strukturen, alles mußte er selbst erst einmal schaffen. Und er trat dabei nicht nur gegen die mächtigen etablierten Parteien an, sondern auch gegen die in Argentinien tiefverwurzelte peronistisch-sozialistische Tradition. Doch gegen jede vernünftige Annahme hat sich dieser absolute Außenseiter durchgesetzt. Und nun ist er nicht nur der Präsident des Landes, sondern sogar der beliebteste Staatschef ganz Südamerikas und, noch verrückter, das Idol der Jugend, die ihre Che-Guevara-T-Shirts, die sie hier seit einem halben Jahrhundert typischerweise trägt, gegen Milei-Hemden tauscht. Im Wahlkampf hielt er auf Marktplätzen sogar Vorlesungen über Ökonomie: man würde meinen, das schreckt ab – Irrtum, die Leute kamen! Selbst hier in Spanien, wo ich lehre, begeistert er die Menschen. Und ich beobachte hier selbst sehr einfach wirkende Leute, die dem Augenschein nach nie eine Uni von innen gesehen haben, wie sie Youtube-Videos Mileis ansehen, in denen er über Mises, Hayek, Murray Rothbard, Hans-Hermann Hoppe, Jesús Huerta de Soto und die Österreichische Schule referiert – es ist verrückt! 

Wie hat Milei das gemacht?

Bagus: Mit einem außergewöhnlichen Wahlkampf. Allerdings muß man zugestehen, daß all das ohne die katastrophale wirtschaftliche Krise Argentiniens wohl nicht möglich gewesen wäre. Doch vor ihrem Hintergrund hat es Milei mit seiner Art und Strategie geschafft, vielen Menschen wieder Hoffnung zu geben, vor allem bei der Jugend zum Rebellen, Rächer und Rockstar zu werden. Und das, obwohl natürlich alle Register gezogen wurden, ihn zu verhindern. Man hat ihm sogar Bestechungsgeld geboten, wenn er aussteige oder extra eine liberale Schein-Partei gegründet, um ihm die Wähler abzujagen. Und natürlich hat man versucht, ihm die Bühne zu nehmen, ihn ausgeladen und verleumdet. Milei beauftragte daher einen Detektiv, um vorsorglich nach möglichen Leichen im eigenen Keller zu suchen. Zurück kam der mit einer schlechten Nachricht: Er habe nichts gefunden – was nämlich bedeutet, daß der Gegner etwas erfinden wird. Und das ist viel gefährlicher, da man nun nicht weiß, auf was genau man sich vorbereiten muß. Glücklicherweise hat aber nichts, was man Milei anzuhängen versucht hat, verfangen. Doch konnte er zum Beispiel nicht einmal mehr sein Auto unbeaufsichtigt abstellen, zu groß die Gefahr, daß darin Drogen oder anderes plaziert worden wären. Und natürlich wurde gewarnt, er sei ein „gefährlicher Verrückter“, ein „Faschist“, ja der „neue Hitler“.

Auch der „Spiegel“ nennt Milei als eine Etappe auf dem Weg „zurück in den Faschismus“. Die „Zeit“ konstruiert einen „Marktfaschismus“ und erkennt in Mileis Methoden den „Nazijuristen Carl Schmitt“. 

Bagus: Wie absurd das ist, zeigt, daß der Faschismus bekanntlich den totalen Staat predigt sowie die völlige Unterwerfung des Individuums und somit also das exakte Gegenteil dessen, was Milei vertritt! Für ihn ist der vom Faschismus vergötterte Staat ja gerade das Böse schlechthin ist, übrigens auch weil der Staat eben die Tendenz hat, totalitär zu werden. 

Vielen deutschen Medien gilt Milei als rechts oder Rechtspopulist, oder auch als „ultrarechts“ (Welt). Zählt aber die Österreichische Schule nicht zum Liberalismus? 

Bagus: Ja, heute bezeichnen sich viele „Österreicher“ als „libertär“, was aus den USA kommt, weil dort die ursprüngliche Bezeichnung „liberal“ eine andere Bedeutung angenommen hat und nun für links steht. Milei selbst spricht von „liberal-libertär“, um die eigentliche Bezeichnung nicht aufzugeben und dennoch klarzumachen: nicht links ist gemeint, sondern liberal im eigentlichen Sinne. Gesellschaftspolitisch ist Milei aber rechts einzuordnen, da er etwa gegen Wokeismus, Abtreibung und für das Recht auf Waffen oder eine kompromißlose Kriminalitätsbekämpfung ist. Korrekt ist daher etwa die Bezeichnung „rechtslibertär“, nicht aber Rechtspopulist oder ultrarechts, da dies das zentrale liberale Elemente unterschlägt. Doch diese Verfälschungen, ebenso wie die wirren Faschismusvorwürfe, entspringen wohl der Panik, die unter Linken und Etablierten herrscht. Denn wenn die Methode Milei Erfolg haben sollte, dann wird das die Welt verändern.

Warum? 

Bagus: Weil dann zweifellos erstmals eine libertäre Reformpolitik zum Modell auch für andere Länder werden wird. Argentinien könnte also Auftakt eines Siegeszugs sein, der uns eine neue Ära beschert! Die auch zu einem historischen Abschwung der Linken führen könnte, da das libertäre Modell deren Machtbasis zerstört, da die auf einem immer extensiveren Staat beruht, der ihnen immer mehr Kontrolle über die Bürger und immer mehr Bürokratie zur Unterbringung ihres Personals verschafft.   

Daß Milei der erste libertäre Regierungschef ist, bedeutet allerdings auch, daß seine Rezepte nie umfassend praktisch erprobt wurden. Was, wenn sich, wie beim Kommunismus, zeigt, daß sie theoretisch perfekt scheinen, in der Praxis aber völlig untauglich sind?

Bagus: Wenn Milei scheitert, dann nicht an seinem Rezept, sondern daran, daß er es nicht durchsetzen kann. So hat etwa die von ihm gegründete Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) derzeit nur 17 Prozent in der Abgeordnetenkammer. Zudem tut die Opposition alles, um seine Regierung zu destabilisieren, etwa organisiert sie Massendemonstrationen, versucht Polizeigewalt zu provozieren etc. Vorausgesetzt also, sie hat damit keinen Erfolg und die LLA erringt bei den Wahlen im nächsten Jahr – die Abgeordnetenkammer wird alle zwei Jahre zur Hälfte neu gewählt – eine Mehrheit, dann wird Argentinien einen gewaltigen Wirtschaftsaufschwung erleben.

Aber haben wir nicht gelernt, daß etwa der harte Sparkurs des Reiches 1930 fatale Folgen hatte? Während in den USA gerade die staatsinterventionistische New-Deal-Politik die Große Depression beendete?

Bagus: Ja, so wird es dargestellt, in Wahrheit aber hat der New Deal die Depression verlängert. So war etwa die US-Rezession von 1920/21, bei der der Staat nicht intervenierte, nach Monaten schon wieder vorbei. Und ebenso war in Deutschland Brünings harter Sparkurs richtig – nur als er Früchte trug, hieß der Kanzler leider inzwischen Hitler. 

Wie sieht eine libertäre Politik denn konkret aus?

Bagus: Bedauerlicherweise hat das Parlament von den 664 Vorhaben des ersten Reformpakets – umfangreiche Privatisierungen, Kürzungen und Deregulierungen – nur 269 bewilligt. So wollte Milei etwa alle Staatsbetriebe privatisieren, nun sind es nur vier bis acht Betriebe. Dennoch ist das Reformpaket das mit Abstand größte Argentiniens. Zudem hat Milei bereits die Staatsausgaben real um bis zu 35 Prozent gekürzt! Stellen Sie sich das mal in Deutschland vor, dann wird klar, wie revolutionär selbst Mileis abgespeckte Maßnahmen noch sind. Dazu gehört auch, die Zahl der Ministerin von 18 auf neun gekürzt zu haben. Neugeschaffen hat er allerdings eigens eines für Deregulierung – was Donald Trump so gut gefällt, daß er die Idee übernommen hat und sich übrigens Elon Musk als dessen Chef wünschen würde. 

Wenn Milei könnte wie er wollte, würde er dann etwa den 8-Stunden-Tag abschaffen, den Arbeits- und Verbraucherschutz, die Schulpflicht, den Sozialstaat etc.?

Bagus: Es wird Sie überraschen, aber Milei hat einige soziale Leistungen sogar erstmal erhöht, weil er weiß, daß die Reformen verträglich sein müssen. Nun geht es darum, den Aufschwung zu schaffen, und erst dann den Versorgungsstaat abzubauen. Wobei es auch dann noch Ausgleichsmaßnahmen geben soll, zum Beispiel Bildungsgutscheine für jene, die sich die Schule nicht leisten können.

Trotzdem trifft Mileis Politik viele sehr hart, was ja die massiven Oppositionsdemos gegen ihn nährt.

Bagus: Daß es hart wird, hat Milei nie verschwiegen. Aber er hat versprochen, daß es nach der unvermeidlichen Kur aufwärts geht, und so wird es auch kommen, wenn man ihn denn machen läßt. 

Die staatliche Bildung, der Sozialstaat, die zahlreichen Schutzgesetze, all das ist doch nicht fälschlicherweise entstanden, sondern weil es funktionierte und dazu beigetragen hat, Länder wie etwa Deutschland erfolgreich zu machen. Geht eine Milei-Politik nicht viel zu weit, wäre nicht vielmehr eine Rückkehr zur klassischen Sozialen Marktwirtschaft die Lösung?

Bagus: Gerade diese war ja anfangs ein Beispiel dafür, welchen Segen es bringt, wenn der Staat sich zurückhält. Aber Sie sehen doch, wohin uns heute die später einsetzende extensive Ausdehnung des Staates geführt hat! Und Deutschlands Aufstieg war vor allem auch eine Folge, daß liberale Reformen im 19. Jahrhundert den Weg für private und genossenschaftliche Lösungen freigemacht haben. Der Frage, was konkret Deutschland von Milei lernen könnte, widme ich mich im Buch natürlich auch. Nur ein aktuelles Beispiel: im Dezember hat er die Mieten dereguliert, etwa die Mietpreisbremse gestrichen. Die Empörung war gewaltig – ebenso wie aber nun die Begeisterung, denn bis heute sind die Mieten real um vierzig Prozent gesunken.



Prof. Dr. Philipp Bagus: Der Ökonom, geboren 1980 in Wiesbaden, lehrt an der Universität Madrid. Er publizierte etliche Bücher wie „Warum andere auf Ihre Kosten immer reicher werden“ oder „Die Tragödie des Euros“. Eben erschienen: „Die Ära Milei. Argentiniens neuer Weg“  www.philippbagus.de