© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/24 / 04. Oktober 2024

Der Flaneur
Was für ein Zirkus
Elke Lau

Neun Uhr morgens. Auf dem Weg zum Bahnhof sitzt ein Rabe auf einem Laternenmast, beobachtet uns lauernd, ehe er kreischend versucht, auf Ulis Haupt zu landen. Wir kennen ihn bereits von früheren Besuchen, aber da war er friedfertig und zutraulich. Er logiert bei einer Familie im Schwarzwaldstädtchen, besser gesagt, er frißt, badet und nächtigt dort. Sie tauften ihn auf den Namen Jakob.

Heute ist er aggressiv. Nur mit Mühe entgehen wir seinen Angriffen und sind erleichtert, als wir in der Ringbahn sitzen und die weitere Entwicklung aus sicherem Gewahrsam beobachten können. 

Jakob attackiert nämlich ein neues Opfer: Auf der Bank in der letzten Spätsommersonne sitzt ein etwa 35jähriger Herkules im schwarzen Unterhemd, kurzer Baumwollhose, lückenlos tätowierte Arme und Beine. Ein perfekter Haarschnitt, gepflegter Bart, exquisite Armbanduhr und pieksauberer Rucksack passen irgendwie nicht dazu. Mit heftigen Fußtritten verscheucht der den Vogel, während er hastig an seiner liederlich gedrehten Zigarette zieht und eine Bierflasche leert.

Herkules möchte das Fahrrad verladen, während ein verhülltes Wesen den 

Weg versperrt.

Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt. Er hastet zum Abfalleimer, drückt sorgfältig die Kippe aus und stellt die Pulle griffbereit für Sammler ab. Dann schnappt er sich seinen Rucksack und steigt ein. Unsere amüsierten Blicke kommentiert er etwas spöttisch: „Ich wünsche Ihnen einen schönen guten Morgen.“

Abfahrt, nächster Halt in Donau­eschingen. Ein Fahrgast, überfordert mit Gepäck und E-Bike, bleibt hilflos im Eingang stecken. Herkules springt auf, verlastet das Fahrrad, wobei ihm ein von Kopf bis Fuß in schneeweiße Laken gehülltes Wesen ständig den Weg versperrt. Die dunklen Augen der jungen Dame sind nämlich auf ein Smartphone gerichtet, während sie in einer fremden Sprache schnattert.

Einem greisen Schäferhund läuft der Speichel aus der Schnauze, als er sich durch den Gang quält, während seine Besitzerin die Rentner-Bravo studiert. Die Vermummte verstaut ihr Mäusekino und krault das Tier, das nun zufrieden seinen Sabber bei ihr abstreifen kann.

Zwei Stationen später müssen wir aussteigen. Jakob weg, Klappe zu, Zirkus aus!



In allem ist ein Riß. So kommt das Licht herein.

Leonard Cohen, kanadischer Autor und Sänger (1934–2016)