Der Beginn des vorliegenden Romans gleicht dem Säuseln vor einem Sturm. Die Rede ist von einer kleinen Stadt, einem kleinen See und umliegenden Bergen. In dieser Stadt lebt die sechzehnjährige Odile Ozanne, die sich am Ende ihrer Schulzeit für eine Ausbildung entscheiden muß. Ihr Vater ist gestorben, ihre Mutter, zu der sie ein gespanntes Verhältnis hat, arbeitet im Archiv der Talverwaltung.
Das hört sich so spannend an wie ein Sack Reis, der von einem Karren fällt, aber bereits während der Exposition bemerkt der Leser, daß mit dieser Stadt und diesem Tal etwas nicht stimmt. Es gibt noch zwei andere Täler, ein westliches und ein östliches Tal, in dem die gleichen Menschen in den gleichen Häusern leben, nur jeweils zwanzig Jahre jünger beziehungsweise zwanzig Jahre älter als Odile. Im westlichen Tal ist Odile noch gar nicht geboren, im östlichen Tal ist sie bereits 36 Jahre alt.
Dieser erstaunliche Sachverhalt erschließt sich der Leser allerdings nur aus Nebensätzen und Randbemerkungen, was neugierig macht. Ein sogenanntes Conseil wacht in aller Strenge darüber, daß es zwischen diesen Tälern keinen Kontakt gibt, um Zeitparadoxien zu vermeiden. Die Bewohner dieser Täler leben in dieser Wirklichkeit, als sei sie das normalste der Welt, sie gehorchen der Obrigkeit und glauben die abschreckenden Erzählungen von Verbrechern, die unerlaubt die Grenzen der Täler überschreiten. Die bekannteste Moritat handelt von einem Mädchen, das sich heimlich Zutritt zum östlichen Tal verschafft, wo sie ihr zwanzig Jahre älteres Alter ego ermordet, um dann eine Mutterstelle inmitten von Kindern einzunehmen, die so alt sind wie sie selbst.
Die Normalität schwebt auf einem paradoxen Grund
Nur in ganz besonderen Ausnahmefällen von Trauer und Verlusten ist es den Bürgern nach einem bewilligten Antrag gestattet, einen streng reglementierten Besuch im Nachbartal, sprich: in einer anderen Zeitebene, durchzuführen. Die Besucher werden dabei von Gendarmen begleitet, tragen Masken und dürfen sich im Nachbartal nur an vorher festgelegten Orten aufhalten. All das ist den Bürgern der Täler bekannt, so daß sie immer, wenn am Rande ihres Alltags maskierte Menschen mit Gendarmen auftauchen, wissen, daß in ihrem Tal bald ein Trauerfall eintreten wird.
Ein fremdartiges Bühnenbild, fürwahr, aber noch fremdartiger ist die Erzähltechnik, mit der der kanadische Autor Scott Alexander Howard seinen Plot entfaltet. Im Unterschied zur normalen literarischen Präsentation, bei der der Plot im Mittelpunkt steht und die Beschreibungen der alltäglichen Vollzüge wie eine belletristische Sättigungsbeilage mitgeliefert werden, verfährt der Autor über weite Teile des vorliegenden Buches gerade umgekehrt. Odile lebt ein normales Leben, geht einen Teich entlang, hört die Vögel zwitschern, besucht ihre Mutter im Archiv – aber alles geschieht vor dem Hintergrund der zeitversetzten Täler, deren bloßes Dasein einen immer bedrohlicheren Schatten über Odile Leben wirft. Abgesehen davon, daß die Details dieser Alltäglichkeit in einer zugleich anschaulichen und poetischen Sprache erzählt werden, evoziert der Autor mit dieser Umkehrung von Figur und Grund beim Leser eine zunehmende Neugier nach dem Geheimnis der zeitversetzten Täler. Die Normalität schwebt auf einem paradoxen Grund, der über weite Teile des Buches unausgeleuchtet bleibt und deswegen die Phantasie des Lesers um so mehr stimuliert.
Der Roman beginnt damit, daß Odile einige Personen mit Masken entdeckt und erkennt, daß es sich um die Eltern eines Schulfreundes handelt, was nichts anderes bedeutet, daß dieser Schulfreund bald sterben wird und die Eltern aus der Zukunft noch einmal ihren Sohn sehen wollen. Wie es die Vorschriften verlangen, verzichtet Odile darauf, ihren Schulfreund Edme, in den sie sich gerade erst verliebt hat, vor dem nahenden Tod zu warnen. Als Edme dann tatsächlich stirbt, gerät sie in eine seelische Krise und bricht eine vielversprechende Ausbildung zum Mitglied des Conseils ab.
Im zweiten Teil des Buches, der zwanzig Jahre später spielt, ist Odile Polizistin der Grenztruppen, die die Täler hermetisch voneinander abriegeln. Ihr Leben hat sich nach dem Tod ihres Freundes Edme versteinert. Sie leidet unter Schuldgefühlen, verfügt kaum über soziale Kontakte, und die Beziehung zur Mutter ist noch schlechter geworden. An einem eiskalten Wintertag entdeckt Odile bei einem ihrer Kontrollgänge eine Frau, die die Grenzanlagen widerrechtlich zu überschreiten versucht, weil sie im zeitlich früher existierenden Nachbartal verhindern will, daß sie jemals ihren Mann kennenlernt. Die Frau wird von einem Offizier erschossen, der diese Tat Odile zuschreibt, um deren Chancen auf eine Beförderung zu verbessern.
Natürlich wird aus dieser Beförderung nichts, weil sich Odile mit einem Zivilisten, einem ehemaligen Freund des vor zwanzig Jahren verstorbenen Edme, einläßt, was streng verboten ist und ihr ein Degradierung einträgt. Spätestens an dieser Stelle merkt der Leser, daß sich die Handlung im mittleren Tal der Zeitebene nähert, in der es Odile im westlichen Tal vor zwanzig Jahren versäumte, ihren Schulfreund vor seinem bevorstehenden Tod zu warnen. Die Zeitebenen beginnen sich zu verknoten, als sich die 36jährige Odile entschließt, durch einen unerlaubten Grenzübertritt die Geschichte zu verändern.
Wie sich diese Dialektik von Normalität und Paradoxie entwickelt, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Nur so viel: Wer der komplexen Handlungsführung folgt, wird am Ende durch überraschende Einsichten belohnt. Möglich, daß manchem Leser am Ende des Buches der Kopf brummen mag, denn die Paradoxien der Zeit und das Labyrinth der Hoffnungen erweisen sich als unauslotbar. Je nach dem Lebensschicksal der Protagonisten erscheint die Vergangenheit wie eine Quelle, an der man gern noch einmal trinken möchte, oder wie der Ursprung des Unheils, den man am liebsten verstopfen würde. All das wird mit literarisch feinstem Besteck anhand der verschiedensten Charaktere durchdekliniert und zu einem überraschenden Ende gebracht.
Scott Alexander Howard: Das andere Tal. Roman. Diogenes, Zürich 2024, gebunden, 464 Seiten, 25 Euro
Foto: Zwei von drei identischen Tälern, nur jeweils 20 Jahre zeitversetzt: Keine Kontakte