Hat Bundespräsident Steinmeier bei einem Empfang im Schloß Bellevue tatsächlich gegenüber Schriftsteller Marko Martin „wutentbrannt ... die Fassung verloren“, weil der ihn in seiner Festrede zum 35. Jahrestag des Falls der Mauer „diffamiert“ habe? Trifft dies zu – was das Präsidialamt dementiert –, wäre es ein Mangel an Souveränität, der einmal mehr Zweifel an seiner Eignung für das höchste Staatsamt nährt.
Aufschlußreich ist allerdings, was offenbar unstrittig ist: Ob Steinmeier nun Contenance gewahrt hat oder nicht, Grund seiner Beschwerde war die eigene Kränkung – obgleich Martins Rede vor der Kritik an ihm nicht minder gegen die Deutschen austeilte, die er als kleingeistige Spießer dem großherzigen Geist der Polen gegenüberstellte. Wenn Widerspruch, wäre es dann nicht die Pflicht des Bundespräsidenten, vor sich selbst jene zu verteidigen, die er repräsentiert?
Natürlich hat Martins Kritik Berechtigung – gleichwohl ist sie unfair, da sie sowohl den aggressiven historischen Nationalchauvinismus der Polen völlig ausblendet, als auch die Argumente, die für die von Martin gescholtene Rußlandpolitik Steinmeiers vor 2022 sprechen: etwa, daß man im Umgang mit Autokraten Kompromisse machen muß. Das freilich bedeutet eine Absage an jenen hochfahrenden Moralismus, dessen sich Steinmeier selbst jedoch nur zu gerne befleißigt.
Und so trifft Martin einmal mehr den Kern: „Bei Steinmeier klingt alles pastoral nachdenklich, kratzt man aber daran, ist es die reinste Satzbauroutine“ und „statt eigene Fehler einzugestehen, beschimpft er andere“.