© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/24 / 22. November 2024

Nur politischer Wille nötig
Gesetzesflut: Bürokratie kostet die deutsche Wirtschaft jährlich etwa 146 Milliarden Euro
Hannes Märtin

Während die Bürger vor allem bei einer Baugenehmigung, der Wohnungsummeldung oder der Steuererklärung mit dem wahren Ausmaß des bürokratischen Apparats konfrontiert werden, tragen insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) tagtäglich die Hauptlast. Diese stehen vor der Herausforderung, nahezu identische Auflagen wie Großkonzerne zu erfüllen – jedoch ohne deren Ressourcen. Unabhängig von der Größe müssen Unternehmen bis zu 125 verschiedene gesetzliche Vorgaben einhalten, von denen viele branchenspezifisch sind. Verpflichtungen wie Arbeitszeiterfassung, Hygienedokumentationen oder Nachweise zum Mindestlohn, um nur ein paar wenige Vorschriften zu nennen, erfordern eine lückenlose und zeitaufwendige Dokumentation.

Laut der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) bedeutet dies für Unternehmer im Durchschnitt 14 Überstunden pro Woche, die allein für die bürokratische Organisation aufgebracht werden müssen. Eine Studie des Münchner Ifo-Instituts unterstreicht nun zudem die wirtschaftlichen Folgen der destruktiven Überregulierung: Die Bürokratie kostet die deutsche Wirtschaft jährlich rund 146 Milliarden Euro an Wertschöpfung. Diese alarmierende Zahl verdeutlicht, wie massiv die bürokratische Last nicht nur Unternehmen, sondern auch das gesamte Wirtschaftssystem belastet.

Ständig neue Vorschriften und Regulierungen für jeden Bereich

Treiber der hohen Kosten sei die mangelhafte Digitalisierung der Verwaltung. Obwohl das Onlinezugangsgesetz (OZG) die vollständige Digitalisierung von Behördengängen zum Ziel hatte, blieb die Umsetzung durch die Ampel weitgehend aus. Bis April 2024 waren nur 157 von fast 600 Leistungen bundesweit online verfügbar – ein ernüchterndes Ergebnis (JF 35/24). Die Untätigkeit der Bundesregierung im Kampf gegen den Pflichtenwahnsinn war eindeutig: Statt den Bürokratieabbau voranzutreiben, wuchs die Flut an Vorschriften und Regulierungen unaufhaltsam weiter – und das nicht nur im digitalen Bereich, sondern in fast allen Sektoren der Wirtschaft und Verwaltung.

Dirk Jandura, Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), übt scharfe Kritik an dieser Politik. Er wirft der Ampelkoalition vor, eine widersprüchliche Doppelstrategie zu verfolgen. Während die Regierung öffentlich den Bürokratieabbau propagiert, tut sie das Gegenteil und schafft parallel Gesetze, die Unternehmen zusätzlich mit jährlichen Milliardenkosten belasten. Dieses inkonsistente Handeln, so Jandura, behindert nicht nur die wirtschaftliche Dynamik, sondern setzt auch die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen aufs Spiel.

Im Vergleich dazu demonstrieren deutlich kleinere Volkswirtschaften wie Dänemark und Estland, wie es besser geht. Dänemark verfolgt eine ambitionierte E-Government-Strategie, die bis 2025 alle Verwaltungsdienste digitalisieren soll. Bereits jetzt nutzen über 80 Prozent der Bürger digitale Angebote. Oliver Falck, Leiter des Ifo-Zentrums für Industrieökonomik und neue Technologien, bringt es auf den Punkt: „Würde Deutschland bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung auf das Niveau von Dänemark aufschließen, wäre die Wirtschaftsleistung um 96 Milliarden Euro pro Jahr höher.“ Dieser Vergleich unterstreicht das enorme ungenutzte Potential, das in einer konsequenten Digitalisierung der Verwaltung steckt und die Kosteneinsparungen, die dadurch realisiert werden könnten.

Ein weiterer Kostenfaktor des monströsen Bürokratieapparats ist das „woke“ Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) letzten Merkel-Regierung, das Unternehmen dazu verpflichtet, entlang ihrer gesamten Lieferkette weitreichende Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Einrichtung eines Risikomanagements zur Identifizierung von Menschenrechts- und Umweltrisiken in der Lieferkette oder Erstellung einer Grundsatzerklärung zur Achtung der Menschenrechte sind nur einige der abstrusen Anforderungen, die im Gesetz verankert sind. Die Erfüllung dieser Anforderungen führt zu erheblichen finanziellen Belastungen, insbesondere durch die Investitionen in neue IT-Systeme zur Überwachung der Lieferkette, die Kosten für externe Berater und Audits sowie den erhöhten Personalaufwand.

Auch das LkSG steht nun vermehrt in der Kritik, insbesondere von Wirtschaftsverbänden und Experten, die auf die Herausforderungen hinweisen, die insbesondere für KMU entstehen. Almut Weinert von der IHK Ostthüringen betont, daß die tatsächlichen Kontroll- und Einflußmöglichkeiten kleiner Unternehmen überschätzt werden. Sie haben oft nicht die Kapazitäten, um die umfangreichen Sorgfaltspflichten zu erfüllen. Auch Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer der DIHK, fordert eine Aussetzung des Gesetzes, um Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen zu vermeiden. Er warnt vor einer Flut neuer Bürokratie.

Besonders schwierig für kleinere Unternehmen gestaltet sich zudem die Nachverfolgung von ESG-Kriterien. ESG (Environmental, Social and Corporate Governance) umfaßt die Bewertung von Umwelt, Sozialem und Unternehmensführung. Maßnahmen wie die Reduktion von „Treibhausgasen“, effizienter Ressourceneinsatz und der Schutz der Artenvielfalt werden hier beurteilt.

Ideologische Entscheidungen mit hohen Kosten und Mehraufwänden

Unternehmen mit hohen ESG-Ratings genießen häufig attraktive Kreditkonditionen, ziehen vermehrt die Aufmerksamkeit von Investoren auf sich und profitieren von politischer Bevorzugung, etwa durch staatliche Förderprogramme. Dieser Umstand läßt Unternehmen faktisch keine Wahl, als sich den Vorgaben zu fügen – unabhängig davon, ob sie dies aus Überzeugung oder aus rein pragmatischen Gründen tun.

Das Dessauer Umweltbundesamt (UBA) nimmt in diesem Kontext eine Schlüsselrolle ein und wird zunehmend als politischer Akteur wahrgenommen, insbesondere da es durch seine Initiativen zur Verschärfung der bürokratischen Last beiträgt. In den letzten Jahren hat die Behörde zahlreiche neue Umweltvorgaben wie das Einwegkunststoffgesetz und die Industrieemissionsrichtlinie eingeführt. Kritiker sehen darin ideologisch geprägte Entscheidungen, die vornehmlich mittelständische Betriebe mit hohen Kosten und Mehraufwänden belasten.

Auch der lahmende Wohnsektor bleibt nicht verschont. Während in den 1990er Jahren noch etwa 5.000 Bauvorschriften existierten, sind es mittlerweile rund 20.000. Im Gesundheitswesen spiegelt sich dasselbe Drama wider: ein Irrgarten aus Vorschriften. Die Liste der betroffenen Branchen und Sektoren könnte man endlos weiterführen: Die Bürokratie zieht sich wie ein Rattenschwanz durch die gesamte Bundesrepublik – und ein Ende des ausufernden Regulierungswahns ist nicht absehbar, weder in Brüssel, Berlin, Dessau oder den 16 Landeshauptstädten. Wie ein endloser Schatten legt sich der Bürokratieberg über die deutsche Wirtschaft und erstickt Innovationskraft, Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Effizienz.

Ifo Schnelldienst 11/24:

ifo.de/publikationen/2024/aufsatz-zeitschrift/kosten-der-buerokratie-reformen-dringend-gebote