© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/25 / 06. June 2025

Israels gordischer Knoten
Tragödie in Gaza: Die Bundesregierung streitet über Nahostpolitik. Dabei sollte Deutschland mitgestalten
Sandro Serafin

Friedrich Merz hat es wieder getan. Der Wendehals-Kanzler hat den nächsten 180-Grad-Schwenk hingelegt – dieses Mal auf außenpolitischem Parkett. Mit Blick auf Israels neue Offensive im Gazastreifen monierte der Christdemokrat in der vergangenen Woche: „Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, läßt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen.“

Noch vor wenigen Monaten hatte sich Merz als Israel-Freund zu profilieren versucht. „Was sind Ihre Solidaritätsbekundungen für den Staat Israel und die Menschen in Israel eigentlich wert?“, schleuderte er im Oktober im Bundestag seinem Amtsvorgänger Olaf Scholz entgegen und empörte sich darüber, daß die Ampel-Regierung die Waffenlieferungen an Israel zurückgefahren hatte. Jetzt droht sein eigener Außenminister Johann Wadephul, ebenfalls CDU, mit einem Stopp der Rüstungsexporte.

Mehr noch: In einem Akt der Überkompensation klingt die Regierung Merz gleich viel schärfer, als es die grüne Außenministerin Annalena Baerbock jemals tat. Man lasse sich von Israel nicht „zu einer Zwangssolidarität“ bringen, schimpfte Wadephul. Prompt mußte sich die Grünen-Parteichefin Franziska Brantner im Spiegel vorhalten lassen, daß ihre Außenministerin nachsichtiger mit Israel umgegangen sei, als es nun die Christdemokraten tun.

Ein bemerkenswerter Vorwurf, der zeigt: Die Stimmung im deutschen Israel-Diskurs ist nicht nur gekippt. Sie befindet sich in einer Abwärtsspirale, in der für deutsche Politiker und Meinungsmacher mittlerweile zwei Fragen maßgeblich zu sein scheinen: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der größte Israel-Kritiker im Land? Und: Wer will noch mal, wer hat noch nicht (gegen Israel geschossen)? Über die Katastrophen im Sudan oder im Jemen, wo seit Jahren Dutzende Millionen Menschen Hunger leiden, bleibt derweil der Mantel des Schweigens gedeckt. Es ist auch ein Sturm der Doppelmoral, der gerade durch Deutschland weht.

Das bedeutet nicht, daß man die Augen verschließen soll vor dem, was im Gazastreifen mit seinen zwei Millionen Bewohnern passiert. Auch dort ist die Lage katastrophal. Große Teile sind zerstört. Menschen ziehen ohne Ziel und Zukunft umher. Und viele fallen den Kampfhandlungen zum Opfer – vermutlich auch durch israelische Kriegsverbrechen, wie es sie in jedem Krieg gibt.

Nur dürfte der Kurswechsel des Kanzlers eher wenig mit seinem humanitären Gewissen zu tun haben. Merz hat Angst vor dem Koalitionspartner SPD, der schon lange nach mehr Israel-Kritik dürstet. Stärker noch fürchtet er die europäischen Partner, Frankreich und Spanien etwa, die längst auf einen schärferen Kurs drängen und mit Sanktionen gegen Israel drohen.

Davon abgesehen darf man über die emotionalen Bilder aus Gaza nicht den Blick für die Lage verlieren, in der sich Israel befindet. Erstens: Nach wie vor halten palästinensische Terroristen 58 tote und lebende Geiseln fest. Gleichzeitig berichten die Zurückgekehrten von der Folter, die ihnen widerfahren ist. Die Bundesregierung würde in dieser Situation vielleicht die Hände in den Schoß legen. Dies auch von Israel zu erwarten, ist Irrsinn.

Zweitens: Die Hamas führt einen Krieg ohne Rücksicht auf Verluste. Ihr ist die eigene Bevölkerung völlig egal. Zugleich unterstützen erhebliche Teile der Palästinenser nach wie vor die Islamistenorganisation, wenngleich zuletzt auch Proteste zugenommen hatten. Daß Israel sich gezwungen sah, über Wochen humanitäre Hilfslieferungen zu blockieren, trug maßgeblich zur jetzt eskalierten Kritik bei. Dabei ging völlig unter, daß die Islamisten die Hilfe selbst unterwanderten, indem sie sie für sich abzuzweigen versuchten. Gemeinsam mit den USA hat Israel ein neues System entwickelt, das das verhindern soll. Die internationale Gemeinschaft müßte das begrüßen, unterstützten und, ja, vielleicht auch verbessern. Statt dessen ist sie nur damit beschäftigt, es zu kritisieren und zu sabotieren.

Das wiederum ist nicht überraschend. Denn drittens haben westliche Staaten auch zuvor schon wesentlich zur vertrackten Situation beigetragen, die jetzt entstanden ist. Jahrelang verschloß auch Deutschland die Augen davor, daß seine millionenfach ausgeschütteten Hilfsgelder den Terror nicht bekämpften, sondern päppelten. Israel beging zwar denselben Fehler, muß ihn nun aber alleine ausbaden – und sich dabei noch wohlfeile Kritik des Westens anhören. Der Verdacht liegt nahe, daß Deutschland und andere damit bloß von ihrem eigenen Versagen abzulenken versuchen.

Auch ein Friedrich Merz hat bis heute keine konstruktive Lösung präsentiert, wie das Problem unter weniger humanitären Verlusten aus der Welt geschafft werden könnte. Der israelischen Regierung vorzuwerfen, sie habe keinen Plan, wie man den Krieg beenden könne, ist der Sache nach zwar richtig, angesichts der eigenen Planlosigkeit aber auch hochgradig heuchlerisch. Zu wenig hört man davon, daß sich Israel einer Reihe von schlechten Optionen gegenübersieht.

Derweil machen sich die Europäer die Sache aus der Ferne leicht, indem sie sich quasi-religiös an alte Glaubensformeln klammern, die längst auf ganzer Linie gescheitert sind („Zwei-Staaten-Lösung“), und an Akteure, die ihr Versagen zur Genüge bewiesen haben (Palästinensische Autonomiebehörde). Ihre Forderungen an Israel laufen darauf hinaus, daß es den Krieg jetzt abbricht und die Hamas an der Macht läßt. Es kann aber keine logische Politik sein, den gleichen Fehler immer aufs neue zu wiederholen.

Eine realistische und ehrliche Politik würde statt dessen damit beginnen, eine so einfache wie bittere Wahrheit anzuerkennen: Dieser Konflikt läßt sich nicht im Sinne eines positiven Friedens lösen. Es kann nur darum gehen, das am wenigsten schlechte Szenario aller sehr schlechten Szenarien auszuwählen. Das besteht aktuell in einer israelischen Militärverwaltung für weite Teile des Gazastreifens. Es wäre beschönigend, das als Lösung zu bezeichnen. Eine solche Militärverwaltung ist häßlich, sie ist auch gewaltsam, sie führt zu täglichen Reibungen und wird den Terror nicht beenden.

Aber sie ist die einzige Möglichkeit, eine Situation relativer Sicherheit und Ruhe wiederherzustellen, bevor überhaupt weitere Schritte ins Blickfeld rücken können. Deutschlands Aufgabe sollte sein, diesen Weg so erträglich wie möglich mitzugestalten, statt mit erhobenem Zeigefinger Oberlehrer zu spielen. Das würde auch Israels Premier Benjamin Netanjahu den Rücken gegen jene Kräfte stärken, die sich deutlich radikalere Lösungen bis hin zu gewaltsamen Vertreibungen vorstellen können.