© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/98 02. Januar 1998

 
 
Ein heißes Jahr für Kolumbien: Präsidentenwahlen und die Mafia-Realitäten der Guerilla
In der Tretmühle des Terrors
von Annegret Reelitz

Ich besuchte meine Schwester in Los Alpes, einem Dorf nahe der Hauptstadt. Wir übten ein wenig Korbball, und nebenan spielte die Guerilla Fußball. Sie kamen zu uns herüber und meinten, ich müsse gut aussehen mit einem Gewehr über der Schulter. Ich konnte nicht mehr zu Hause Bescheid sagen, sie nahmen mich gleich mit. Widerstand war zwecklos, sie bringen einen sofort um." – Der so nachdrücklich in den Untergrund Eingeladene war Luis Carlos Garza, heute 16 Jahre alt und Deserteur der "Frente 53" der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), der größten in Kolumbien aktiven Guerilla-Organisation orthodox-kommunistischen Zuschnitts.

Garza berichtet weiter: "Im Camp wurde ich verhört, da sie immer fürchten, man wäre eingeschleust. Sie sagten mir, ich befände mich bei ihnen für eine große Idee und daß die Regierung schlecht sei und die Bauern mißhandle, und der Präsident Ernesto Samper sei sowieso ein Clown, den man zertreten müsse wie eine Kröte. Nach fünf Monaten Training konnte ich mit drei Gewehrtypen umgehen: Galil, AK-47 und R-15, dazu Revolver und Pistole."

Schon seit Jahren ist Kolumbien in der Statistik von Mord und Totschlag weltspitze: etwa 30.000 Tote pro Jahr. Außerdem steht das lateinamerikanische Land, seit es keine Sowjetunion und auch kein weltrevolutionär engagiertes Kuba mehr gibt, die ihre Fünften Kolonnen finanzieren, ganz oben bei den Entführungen: alljährlich zwischen 3.000 und 4.000 – Tendenz steigend. Zwei Drittel dieser Entführungen gehen auf das Konto linker Rebellen.

"Die Entführten hatten wir nicht im Camp, sondern etwa fünf Stunden von dort entfernt", so der Überläufer Garza. "Um Informationen zu bekommen, fragten wir in den Dorf-Kneipen auf dem Lande die Leute, wo in der Gegend reiche Leute ihre Fincas (die status-fördernden Wochenendhäuser der Städter; Anm. d. Verf.) hätten. Die Bauern haben immer alles über die Reichen gesagt, wo sie wohnen, ob sie bewaffnet waren, wann sie kamen und gingen, allein oder mit Bewachung."

Internationale Investoren drängen mehr und mehr ins Land, trotz der politischen Unsicherheiten und dem nachlassenden Wirtschaftswachstum, das die Regierung jetzt mit Privatisierungen von Staatsunternehmen aufzufangen sucht. Aus den EU-Staaten wurden in den letzten fünf Jahren 130 Millionen US-Dollar investiert, verschwindend wenig im Vergleich zu den finanziellen Aktivitäten der Vereinigten Staaten, die zugleich Ausgangsort von 38 Prozent der gesamten kolumbianischen Importe sind. 1996 lagen die Direkt-Investitionen ausländischer Firmen bei 3,3 Milliarden und 1997 bei mehr als 4 Milliarden Dollar. Die Geschäfte gehen also nicht schlecht.

Kolumbien, fast viermal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland, jedoch nur von 34 Millionen Menschen bewohnt, ist unendlich reich. Es gehört zu den vier Ländern mit der größten Vielfalt an Flora und Fauna überhaupt, verfügt über Erdöl, Erdgas, die größten Steinkohlevorkommen des Kontinents, Gold, Smaragde und fruchtbare Böden, die an sich eine ausgezeichnete Landwirtschaft ermöglichen – wovon beispielsweise die weltgrößten Pflanzungen von Qualitätskaffee zeugen –, wäre da nicht dieses Dauerproblem der "Violencia", der Gewalt. Denn trotz des ungeheuren Reichtums leben zwei Drittel der Kolumbianer in bitterer Armut – auch hier Tendenz steigend.

"Am 24. und 31. Dezember feiert die Guerilla, dann schlachten sie Rinder, brauen sich ihren Masato und tanzen. An diesen Tagen wird immer des Todes von Ché Guevara gedacht." Ché, der 1965 aufgebrochen war, um die institutionalisierte Revolution in Castros Kuba hinter sich zu lassen, und der am 9. Oktober 1967 erschossen wurde, dieser Ché muß immer noch herhalten für Ideale, die längst einer grausamen Mafia-Realität gewichen sind und in eine ganz eigene Dynamik mündeten.

Das Land ist praktisch gespalten in eine hochqualifizierte Wirtschaftselite, die ihre Ausbildung im Ausland bekommt und die bisher solche Exzesse wie die Abwertung des Peso in Mexiko im Jahr 1994 vermeiden konnte – Kolumbien ist wirtschaftlich erstaunlich stabil, mit einer relativ niedrigen Staatsverschuldung –, und auf der anderen Seite, wir haben es immer noch überwiegend mit einem Agrarstaat zu tun, die wachsenden Landarbeiter-Massen, denen zunehmend die Existenzgrundlage entzogen wird. Sie geraten immer hoffnungsloser in den Sog der Gewalt, sei es als Landflüchtige oder als mehr oder weniger freiwillige Rekruten der institutionalisierten Kampfverbände gleich welcher Couleur.

Die Weigerung des Präsidenten, die Konsequenzen aus den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu ziehen, im Wahlkampf Mafia-Gelder angenommen zu haben, hat die Bevölkerung polarisiert und ein Regieren fast unmöglich gemacht. In diesem Machtvakuum konnte sich die "Violencia" prächtig entwickeln und ist heute – zwar zersplittert, aber darum nicht minder gefährlich – zu einem politischen Faktor geworden, an dem vorbei nichts mehr geht.

1998 verspricht für Kolumbien ein heißes Jahr zu werden, denn es stehen Präsidentschaftswahlen an. Schon der Wahlkampf muß zeigen, wie mürbe der Staat inzwischen geworden ist, ja, wieviel Staat es überhaupt noch gibt und welchen Preis die Menschen, die hier leben, auch in Zukunft noch bezahlen müssen. Dieses Jahr wird erweisen, inwieweit Kolumbien reif ist für das abschreckende Guatemala-Modell.

Der neue Präsident könnte Horacio Serpas Uribe heißen, der gegenwärtige Innenminister, ein Volkstribun. Ihm traut man es zu, daß er den Terror-Alptraum zu einem Ende bringt. Sollte es nach 50 Jahren "Violencia" tatsächlich zu einem Burgfrieden kommen, dann wird dieser jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach dem folgenden Schema entsprechen: Machtpolitisch bleibt alles beim alten, nur sitzen fortan bei der Verteilung der Reichtümer des Landes zwei Spieler mehr am Tisch, die kommunistische Guerilla nämlich und die Paramilitares der Reaktion.

Und die Bevölkerung auf dem Lande, um deretwillen der ganze Feuerzauber ursprünglich veranstaltet wurde? Wird Luis Carlos Garza dann einen Beruf erlernen? – Wohl nicht. Die breite Masse der Menschen dieses Landes bleibt die unwichtigste Sache der Welt.


 
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