© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/98  09. Januar 1998

 
 
Einwanderung: Massenansturm von Kurden über Italien
Auf ins gelobte Land - schläft Bonn?
Von Martin Otto

Kein Grund zur Beunruhigung.1998 wird als Sicherheitsjahr lange in Erinnerung bleiben. Dies verkündet zumindest die erste Presseerklärung des Bundesinnenministeriums für dieses Jahr; ein "9-Punkte-Katalog" illustriert eindrucksvoll den immensen ministeriellen Tatendrang von "besonderen politischen Anstrengungen". Einer dieser neun Punkte wird vielleicht schneller, als es allen lieb ist, zum Prüfstein der bundesdeutschen Innenpolitik geraten. Die Konfrontation der schön zu lesenden Punkte mit der ohnehin schwer planbaren Wirklichkeit, dieses Jahr kann sie recht unliebsam Wirklichkeit werden.

Hunderte und Tausende von Kurden verlassen in einer Völkerwanderung die Türkei, suchen mit überfüllten Seelenverkäufern den Seeweg nach Italien. Bereits in den Jahren zuvor drängte eine nicht minder starke Fluchtbewegung von Albanern auf Booten über die Adria nach Italien. Der Massenandrang scheint die italienischen Sicherheitsbehörden zu überfordern. Mit Italien haben die Flüchtlinge den Geltungsbereich des Schengener Abkommens erreicht, der Weg in begehrte Fluchtstaaten wie Deutschland steht ihnen nunmehr offen. Die innenpolitische Diskussion, ob Deutschland nun Einwanderungsland sei oder nicht – droht sie bald von Tatsachen in Form einer unkotrollierten Massenimmigration kurdischer Flüchtlinge ad absurdum geführt zu werden? Immerhin zeigt das Bonner Ministerium "Problembewußtsein". Der "Grenzschutzschleier", so Punkt 4 der Presseerklärung, müsse "gegen illegalen Zuzug vom Ausland ständig effektiver werden"; besonders gegen das "Schlepper-Unwesen" müsse vorgegangen werden.

Ein verstärkter Einwanderungsdruck auf die Bundesgrenzen, gerade auch über die Grenzen von Mitgliedsstaaten des Schengener Abkommens, ist schon jetzt feststellbar. Wie die Grenzschutzdirektion Süd gegenüber der JF mitteilte, steigt die Zahl der Aufgriffe an der deutsch-französischen Grenze permanent. Im ersten Halbjahr 1997 wurden etwa 100 kurdische Flüchtlinge aufgegriffen, im zweiten Halbjahr 1997 waren es bereits 400, und zu diesem Zeitpunkt war der jetzt in allen Medien präsente Massenexodus auf das Gebiet des Schengener Abkommens noch gar nicht absehbar.

Gleichwohl sieht der BGS derzeit keinen Bedarf, die Kräfte an der Grenze zu verstärken. Begründet wird dies freilich mit der großen räumlichen Entfernung zwischen Italien und der Bundesrepublik; diese Hoffnung kann sich freilich als trügerisch erweisen. Immerhin sah Bundesinnenminister Kanther bislang allen Grund, von der Türkei eine "Lösung des Flüchtlingsproblems über die Adria an den Wurzeln" zu lösen.

Die Behörden sehen freilich keinen Handlungsbedarf. Die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales in Berlin erklärte etwa gegenüber der jungen freiheit, mit einem Massenansturm kurdischer Flüchtlinge sei nicht zu rechnen. Die Behörde gebe sich in jedem Falle gelassen; sollte der Flüchtlingsansturm wider Erwarten doch erfolgen, stünde ein erprobtes Team bereit, das binnen kürzester Zeit tausend und mehr Flüchtlinge unterbringen könne; bezüglich der Flüchtlinge habe man "alles im Griff". Auch hier verwies man auf die weite Entfernung von der Adria nach Deutschland.

Die behördliche Beruhigung wirkt rührend und steht in einem gewissen Widerspruch zu dem mit massiven Forderungen an die Öffentlichkeit tretenden Bundesinnenminister, der mit einer Art Ultimatum von den Italienern ein energischeres Vorgehen gegen die drohende Masseneinwanderung verlangte. Von den "praktischen Schritten", die Kanther Italien androhte, falls die massive Einwanderung weiter andauern sollte, ist hier noch wenig zu spüren. Noch in der Presseerklärung vom 2. Januar hieß es, "die Innenpolitik mit Polizei und Justiz sei ebenso wichtig wie die Einwirkung auf Herkunftsländer illegaler Zuwanderer". Nur zwei Tage später scheinen sich die Prioritäten gewandelt zu haben. Vielleicht wurde Kanther ja nur von den Realitäten derart überrascht. Vielleicht liegt es auch in der Natur der Dinge, daß das Innenministerium die Lage an den Grenzen eindeutiger überblickt als etwa Grenzschutzdirektionen. In jedem Fall kommt der Flüchtlingsstrom über Italien der Bundesregierung höchst ungelegen. Die Fernsehbilder einer unkontrollierbaren Immigration ungeahnter Ausmaße fordern eine Debatte über die deutsche Einwanderungspolitik und über die absehbaren Wirkungen des Schengener Abkommens geradezu heraus. Das kann man sich in einem Wahljahr wie 1998 kaum leisten. Insofern ist das Ultimatum Kanthers ein Stück vorgezogener Wahlkampf.

Siehe auch Bericht auf Seite 9


 
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