© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/98  09. Januar 1998

 
 
Radikalismus
von Götz Eberbach

Radikal zu sein bedeutet in Deutschland ein Außenseiter zu sein, böse zu sein. Das ist in Europa nicht überall so. Etwa in Dänemark, Frankreich oder Italien gibt es bürgerliche Parteien, die sich selbst Radikale Partei nennen. Die deutsche Zurückhaltung beim Wort "radikal" hänge, so wird behauptet, mit seinen Erfahrungen aus der Weimarer Republik zusammen, die bekanntermaßen unter dem Druck von Parteien zusammengebrochen sei, die man als radikal bezeichnet. Nun bestehen durchaus berechtigte Zweifel daran, ob diese These überhaupt stimmt. Der vielleicht bedeutendste Außenpolitiker der Weimarer Republik, Gustav Stresemann, hat kurz vor seinem Tod dem englischen Diplomaten Bruce Lockhart anvertraut, wen er für den Zusammenbruch der Republik, den er kommen sah, verantwortlich machte: den Versailler Vertrag, das heißt die Siegermächte des Ersten Weltkriegs und ihre mangelnde Bereitschaft zu einer friedlichen Revision dieses als ungerecht empfundenen Vertrags. Und Otto Braun (SPD), langjähriger und letzter demokratisch gewählter preußischer Ministerpräsident, gab auf die Frage nach den Ursachen des Zusammenbruchs der Demokratie in Deutschland später die knappe Antwort: "Versailles und Moskau".

Man sollte aber auch nicht vergessen, daß die Vorgängerparteien der heutigen etablierten und staatstragenden Parteien (Liberale/FDP, Zentrum/CDU und die SPD) alle einmal als "radikal" oder sogar als "Reichsfeinde" galten, als sie nämlich im 19. Jahrhundert noch nicht an der Regierungsmacht beteiligt, also noch nicht "etabliert" waren. Die Radikalismusfeindschaft von etablierten Parteien ist daher zu einem guten Teil doch wohl auch ideelle und materielle Besitzstandswahrung; man will die eigenen politischen Vorstellungen nicht in Frage stellen lassen. Das geht unter anderem auch daraus hervor, daß bestimmte Äußerungen, wenn sie von etablierten Politikern kommen, durchaus nicht als radikal angesehen werden. In Erinnerung ist noch die Art und Weise, wie etwa Herbert Wehner seine politischen Gegner attackiert hat, die bei "rechtsradikalen" Politikern gewiß als Beweis ihrer verwerflichen oder menschenverachtenden Haltung gegolten hätte, aber auch die Warnung des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber vor einer durch Einwanderung "durchrassten" Gesellschaft wäre bei anderen ein schlagender Beweis ihrer radikalen Gefährlichkeit gewesen.

Die eigentliche Bedeutung des Begriffes "radikal" ist ja, daß bestimmte Ideen "von der Wurzel" (lateinisch: radix) her, also entschieden und bisweilen kompromißlos vertreten werden. Ideen, die oft neu sind und damit meist im Gegensatz zu den herkömmlichen Vorstellungen stehen. Es gehört aber gerade zum Wesen der Demokratie, die selbst durch eine radikale Kritik bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse in ihrer heutigen Form entstanden ist, daß sie auch solchen neuen Ideen die Möglichkeit bietet, sich friedlich durchzusetzen. Eine Demokratie, die radikale Kritik bestehender Verhältnisse und die friedliche Propagierung neuer Ideen verhindern wollte – womöglich gewaltsam –, wäre keine Demokratie mehr.

Weil man also dem politischen Radikalismus seine Berechtigung nicht vollkommen absprechen kann, macht die politische Sprachregelung heute einen Unterschied zwischen "radikal" und "extrem". Der Extremismus wird heute als eindeutig demokratie-, das heißt als staatsfeindlich angesehen. So nannte Innenminister Manfred Kanther die Republikaner als eine radikale Partei auf dem Weg in den Extremismus.

Allerdings kann man oft feststellen, daß bei der Beurteilung von Rechts- und Linksextremismus mit zweierlei Maß gemessen wird. Beim Auftauchen neuer Gruppen am linken Rand des Parteienspektrums, etwa den Grünen oder der PDS, hieß es meist, daß man natürlich manche Ansichten dieser Leute nicht teile, beispielsweise die ursprünglich sehr betonte Sympathie mancher Grünen für "Gewalt gegen Sachen", ihre Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols oder ihre vor der "Wende" erhobene gesetzeswidrige Forderung nach Verzicht auf die deutsche Einheit. Ähnlich bei der PDS: Die Traditionslinie zur SED wurde zwar von Gregor Gysi auf dem Parteitag im Januar 1990 im Hinblick vor allem auf die alten SED-Vermögen gegen den Widerstand vieler Mitglieder ausdrücklich beibehalten, heute wird von ebendemselben Gysi die Feststellung dieser Traditionslinie als böswillige Unterstellung zurückgewiesen. Dazu kommt die Bejahung der Gewalt "autonomer" Gruppen durch Teile der PDS, etwa durch das frühere PDS-Vorstandsmitglied Angela Marquardt und andere.

So sind die Grünen, obwohl sie nie ihre Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols widerrufen haben, obwohl sie seit Anfang der 80er Jahre massenweise Mitglieder kommunistischer Gruppen aufnahmen (so trat etwa die "Gruppe Z" des Kommunistischen Bundes, unter ihnen u.a. Jürgen Trittin, zwecks Unterwanderung geschlossen den Grünen bei), heute politisch akzeptiert. Ja, selbst die frühere Nähe mancher Mitglieder zum RAF-Terrorismus ist heute kein politisches Hindernis. Und auch die PDS ist – DDR-Vergangenheit hin oder her – auf dem besten Weg, genauso akzeptiert zu werden. Und die meisten Medien reagieren mit Entrüstung, wenn hier eine Observierung durch den Verfassungsschutz auch nur in Betracht gezogen wird. Denn auch der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker habe ja gesagt, man dürfe die PDS nicht "ausgrenzen". Bezüglich der Republikaner hat man Entsprechendes nicht vernommen. Anscheinend darf man sie ausgrenzen, was ja auch weitgehend geschieht.

Ein wesentlicher Grund für diese unterschiedlichen Maßstäbe liegt zweifellos in gewissen gemeinsamen Grundanschauungen des westlichen Liberalismus und des marxistischen, aber auch des utopischen Sozialismus. Da aber auch die Bundestagsparteien, wenn auch in verschiedenem Maße, liberal oder sozialistisch sind – das gilt auch für die CDU/CSU, wo konservative und nationale Mitglieder zunehmend ins Abseits geraten –, vermag man eben doch in aller Regel Gemeinsamkeiten eher mit radikal Linken als mit radikal Rechten zu erkennen. So pflegte man schon vor Jahrzehnten in liberalen Kreisen in den USA zu sagen: "Communism is liberalism in a hurry!" (Kommunismus ist Liberalismus, der es eilig hat). Ähnlich dachte auch unser linksliberales Establishment bei der Beurteilung des Kommunismus, besonders in den Medien, vielleicht weniger in der Tagespresse, aber im Fernsehen und im Rundfunk und in den meinungsbildenden Wochenzeitungen und Magazinen. Grundsätzlich vertrat ihrer Meinung nach der Kommunismus doch ein "humanistisches Ziel", wenn auch gelegentlich mit unschönen Methoden.

"Verständnis haben" und Dinge "differenziert sehen" war und ist das Gebot der Stunde – freilich nur in die linke Richtung. Eine Hakenkreuzschmiererei ist eine Meldung in den Nachrichten wert. Graffiti der RAF, der PKK oder anderer Terrororganisationen – die deutschen Innenstädte sind voll davon – dagegen nicht. Selbst private Musikveranstaltungen des "rechtsradikalen" Liedermachers Frank Rennicke werden verboten, CDs beschlagnahmt, alte DKP-Barden erscheinen dagegen in Talk-shows und gewaltverherrlichende Videoclips der linken Band "Tote Hosen" sind im meistkonsumierten Jugendmusiksender VIVA zu sehen. Das Beschmieren und Schänden einer KZ-Gedenkstätte ist zu Recht Gegenstand von Berichten in den Medien, die Schändung von Soldatengräbern und ganz normalen Friedhöfen dagegen nicht. Rechte Gewalt ist selbstverständlich die Folge von "geistigen Brandstiftern" und "Schreibtischtätern", linke Gewalt dagegen offenbar nicht. "Rock gegen Rechts" gehört zum guten Ton des antifaschistischen Zeitgeistes. Was würde wohl die Folge einer entsprechenden Veranstaltung "gegen Links" sein?

Links ist sogar straffrei Antisemitismus möglich. Hier kann man Ignatz Bubis, den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, folgenlos als "Anwalt von Mördern" beschimpfen und ihn im "3. Reich, Teil II" und im "Mörderland Deutschland" willkommen heißen – so geschehen an der Universität Hamburg am 19. Januar 1996. Die Täter: die "Hochschul-Antifa" Hamburg. Entrüstung in den Medien? Kaum.

Die Frage stellt sich, ob auf Dauer die radikalen Vertreter der Political Correctness nicht viel gefährlicher sind als andere Radikale, weil sie unter der Parole "Demokratie" dabei sind, das Wesentliche der Demokratie, die Freiheit, vor allem die Meinungsfreiheit zu zerstören. Ist radikaler Widerstand mit allen legitimen Mitteln gegen die Zerstörung der Demokratie durch radikale PC nicht die Pflicht eines jeden verantwortungsbewußten Staatsbürgers? Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte – und Grundpflichten –, Achtung vor der Menschenwürde aller Menschen – also auch der Deutschen, auch der deutschen Soldaten oder Polizisten, der jetzigen und der früheren –, das alles sind Rechte, die wir uns nicht nehmen lassen wollen. Oder muß man heute nicht teilweise schon sagen: die wir zurückgewinnen wollen?


 
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