© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/98  16. Januar 1998

 
 
Vorpommersche Boddenlandschaft: Gemeinde plant "Durchstich" zwischen Ostsee und Bodden
Gigantismus gefährdet Nationalpark
von Annegret Koljaitschek

Die Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst in Mecklenburg-Vorpommern grenzt im Westen und Norden an die Ostsee und macht so den Saaler Bodden praktisch zum Binnengewässer. Die Verbindung zwischen Ostsee und Bodden zwischen Zingster Ostspitze und Insel Hiddensee ist schmal und flach. An der schmalsten Stelle der Halbinsel, auf dem Fischland, direkt unter dem populären Badeort Wustrow, liegen allerdings nur wenige hundert Meter Land zwischen Meer und Binnensee

Die Halbinsel ist außerordentlich stark gegliedert. Es gibt feine Sandstrände, steinige Steilküsten, urwüchsige Mischwaldgebiete, Schilffelder, Dünenlandschaften. "Wende" und Wiedervereinigung haben sich auf den Naturschutz in diesem bereits zu DDR-Zeiten hochfrequentierten Urlaubergebiet günstig ausgewirkt. Militärische Objekte (in deren abgesperrten Gebieten sich freilich auch Flora und Fauna erhalten hatten) wurden geschlossen, die Einleitung ungeklärter Abwässer aus Industrie und Landwirtschaft in den Bodden wurde gestoppt; vor allem aber wurde der größte Teil zum "Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft" erklärt, der bis nach Rügen ausgreift. Der Park ist ein Refugium für 700 Pflanzenarten (darunter Salzmiere, Krähenbeeren, Wacholder), 225 verschiedene Vogel- und 50 Fischarten. Hier sind Rot- und Schwarzwild, Seeotter, Waldkäuze, Adler, Enten, Schwäne, Wildgänse heimisch. Für viele Vögel ist er ein wichtiger Rastplatz auf ihren Flügen von Nord nach Süd und zurück. Naturfans aus ganz Deutschland pilgern, mit Ferngläsern bewaffnet und meistens rücksichtsvoll, in diese Gegend.

In letzter Zeit werden aus dem Bürgermeisteramt der Stadt Ribnitz-Damgarten (Kreis Nordvorpommern), durch die die einzige Zufahrtsstraße führt und die damit das "Tor" zur Halbinsel bildet, Pläne laut, deren Durchführung den Charakter dieser Landschaft nachhaltig verändern würde: In der Oktobernummer des amtlichen Stadtblattes schlägt Bürgermeister Jürgen Borbe einen "Durchstich" zwischen Ostsee und Bodden bei Wustrow vor; Ribnitz-Damgarten wäre damit "wieder eine Seestadt". Tatsächlich gab es vor Menschengedenken eine schmale Fahrrinne zur Ostsee, die aber vor sechshundert Jahren auf Geheiß benachbarter Hansestädte zugeschüttet wurde. Diese Pläne stehen im Zusammenhang mit den Zukunftsvisionen für ein unmittelbar an die Stadt und den Bodden grenzendes, 585 Hektar großes Flugplatzgelände, das die Stadt von der russischen Armee übernommen hat. Der Flächennutzungsplan sieht touristische Nutzung, Wohnanlagen, die "Ansiedlung von Freizeitbereichen" vor. Doch die Visionen des Bürgermeisters gehen noch viel weiter: Von Bootswerften, Schiffsausrüstern, Charterunternehmen, Motorwerkstätten, Yachthäfen ist die Rede. Er hat die zahlungskräftige Klientel im Auge, die mit dem Regierungsumzug im Großraum Berlin ansässig wird.

Von ökologischen Bedenken angekränkelt ist man nicht. Dabei ist es wahrscheinlich, daß der Salzwasserzufluß aus der Ostsee sich auf das ökologische Gleichgewicht, wie es sich während der letzten Jahrhunderte in der Boddenlandschaft herausgebildet hat, stark auswirken wird. Nicht minder groß wären die Auswirkungen durch den mit Sicherheit einsetzenden Bauboom und die anderen Begleiterscheinungen der Urlaubs- und Freizeitindustrie. Noch ist die Gegend von Bettenburgen und Erlebnisparks verschont, doch gibt es bereits erste Anzeichen, daß der Natur- und Landschaftsschutz sukzessive zurückgeschraubt wird. Unmittelbar nach der "Wende" wurde viel über Bausünden der "SED-Bonzen" geklagt. Im Ostseebad Dierhagen beispielsweise war ein – nach heutigen Maßstäben biederes – Ferienobjekt für die SED-Führung (hier kurten Ulbricht, Honecker und Krenz) mitten in einer Dünen- und Kiefernlandschaft direkt an der Ostsee errichtet worden. Heute sieht es hier noch weitaus schlimmer aus. Eine ganze Anzahl luxuriöser Wohn- und Ferienhäuser wurde danebengeklotzt, nebst Tennishalle und Parkplatz. Wenn man ferner bedenkt, daß in Mecklenburg-Vorpommern gerade erste Spatenstiche für zwei Freizeit- und Erholungsparks gesetzt wurden (im Gebiet der mecklenburgischen Seenplatte und bei Stralsund) und die Investitionsummen jeweils in den dreistelligen Millionenbereich gehen, kann man sich vorstellen, was auf die kleine, landschaftlich noch ungleich attraktivere Halbinsel zukommen könnte, wenn Immobilienhaien, Investoren, Steuersparern – die sich vermutlich schon die Hände reiben – sowie den hilflosen Politikern die Raum- und Zukunftsplanung überlassen bleibt.

Den düsteren Hintergrund für derlei gigantische Projekte bildet nämlich eine desolate Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage. Im Kreis Nordvorpommern liegt die offizielle Arbeitslosenquote bei über 25 Prozent, wobei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), Umschulungen, Vorruhestandsregelungen, vor allem aber die katastrophale Abwanderung der meisten jungen Leute die Bilanz noch verschönern. Eine industrielle Grundlage gibt es nicht mehr; der letzte große Arbeitgeber, das Faserplattenwerk "Bestwood", mußte vor Monaten schließen – der Fall machte bundesweit Schlagzeilen. Da wird verständlich, daß der Traum von einer exzessiven Tourismusindustrie als letzter Silberstreif am Horizont aufglänzt.

Auch deshalb ist der Durchstich-Plan nicht einfach ein Hirngespinst. Bürgermeister Borbe hat versichert: "Stadtvertreter und Stadtverwaltung sind jedoch bereits fest entschlossen, die Vision ‘Seestadt Ribnitz-Damgarten weiter zu verfolgen und für sie zu werben." Die Stadt hat gute Beziehungen in die Landeshauptstadt Schwerin. Die amtierende Finanzministerin Sigrid Keler (SPD) und der CDU-Fraktionschef im Landtag, Eckhardt Rehberg, stammen von hier; auch ihnen sitzen, genauso wie den Kommunalpolitikern, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Region direkt im Nacken. Ökologische Bedenkenträger hätten daher kaum eine Chance auf Gehör. Und im Troß der Bundesregierung und der Lobbyverbände gibt es überdies genügend bedenkenlose Aktenkofferträger, die von einer statushebenden Segelyacht an der Ostsee träumen. Diese Gemengelage könnte dazu führen, daß eine der schönsten Landschaften in Deutschland in absehbarer Zukunft ihr Gesicht wenn nicht verliert, so doch stark verändert.


 
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