© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/98  16. Januar 1998

 
 
Schengener Abkommen: Ein Politisches Relikt aus ruhigen Zeiten muß neu überdacht werden
Hilflos gegen die Massenflucht
von Martin Otto

Mit dem zunehmenden Immigrationsdruck auf die italienische Küste erfährt man jetzt immer wieder, daß besagte Küste zugleich eine Außengrenze des Schengener Abkommens sei. Wer also an der Adriaküste an Land geht, betritt den Boden des Schengener Abkommens. Schengen, das ist schon seit 1985 ein Synonym für unkontrolliertes Überschreiten der Grenzen von europäischen Staaten geworden, nicht zuletzt ein auch von der Bundesregierung jahrelang plakativ angepriesener vermeintlicher Vorzug der immer enger werdenden europäischen Integration.

In jedem Fall ist Schengen eine der Voraussetzungen für den vielzitierten europäischen Binnenmarkt, mithin den ungehinderten Waren- und Personenverkehr zwischen den Staaten der Europäischen Union. Schengen sei jedoch, so erfährt man aus der Presse, mit der Europäischen Union nicht gleichzusetzen; Staaten wie Großbritannien, Irland und Dänemark widersetzen sich der Unterzeichnung des Abkommens und beharren auf Personengrenzen an ihren Grenzen, seien es nun sogenannte "EU-Binnengrenzen" oder nicht.

Eines ist sicher: Als der Gedanke aufkam, die Grenzkontrollen an die Außengrenzen der EG/EU zu verlegen und dies durch vermehrte polizeiliche Zusammenarbeit auszugleichen, galt eine Außengrenze als sicher, nämlich jene gegenüber den Staaten des Ostblocks. Eine Massenimmigration, ein kleiner Grenzverkehr mit diesen Staaten, das war damals wahrscheinlich in allen Konzeptionen für ein Europa ohne Grenzen kaum vorgesehen, genausowenig wie eine Massenfluchtbewegung über die Adria. Eine Reise ohne Kontrollen, von Palermo bis Flensburg: Angesichts der unkontrollierbaren Flüchtlingsmengen assoziieren auch brave Bürger mit dieser Vorstellung nicht unbedingt ungehinderte Urlaubsfahrten, sondern den Horror, einer Massenimmigration schutzlos ausgeliefert zu sein.

Mit dem Namen Schengen, einem luxemburgischen Dorf, direkt am Dreiländereck zu Deutschland und Frankreich gelegen, ist ein Abkommen verbunden, das eine Maßnahme zur Verwirklichung eines europäischen Binnenmarktes ist, jedoch keine Voraussetzung zur Teilnahme an diesem. Schengen, das sind zunächst einmal zwei völkerrechtliche Verträge von 1985 und 1990 zwischen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zur Überwindung der sogenannten Binnengrenzen.

"Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden", lautet Artikel 2 Absatz 1 des "Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen", kurz auch Schengener Abkommen genannt. Eigentlich handelt es sich, wie schon der etwas umständliche, aus dem Französischen übersetzte Titel andeutet, um zwei verschiedene völkervertragliche Regelungen zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Bereits Artikel 8 a das EG-Vertrages sieht Freizügigkeit zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten vor, gemäß zu konkretisierender Bestimmungen. Das Ziel dieser Normen ist leicht nachzuvollziehen, nämlich die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes ohne Zollgrenzen, auf dem Weg zu einem denkbar engen "Staatenverbund" (so das Bundesverfassungsgericht in seinem "Maastricht-Urteil") europäischer
Staaten.

Das erste Schengener Abkommen wurde 1985 zwischen der Bundesrepublik, Frankreich und den Benelux-Staaten mit dem Ziel eines Abbaus der Grenzkontrollen geschlossen. Eine Konkretisierung dieses Abbaus behielt man sich einem folgenden Abkommen vor. gleichwohl wurden recht plakativ, etwa an der deutsch-französischen Grenze, die Personalkontrollen abgebaut.

Damals wie auch heute noch, war und ist dieser Kontrollabbau einer Kriminalitätsbekämpfung nicht hinderlich, zumal neuere Formen der Kriminalität zur Überschreitung von Staatsgrenzen ohnehin in der Lage seien.

1990 wurde von den Unterzeichnerstaaten von Schengen I das zweite Schengener Abkommen unterzeichnet. Zu den Vertragspartnern kamen noch 1990 Italien, 1991 Portugal und Spanien, 1992 Griechenland, 1995 Österreich hinzu. Das Schengener Abkommen steht allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union offen, Schweden und Finnland wollen demnächst beitreten.

Mit dem Schengener Abkommen werden die Sichtvermerke für einen kurzfristigen Aufenthalt innerhalb des Vertragsgebietes vereinheitlicht. Die Mitgliedsstaaten gelten als ein Paßgebiet; so kann ein Angehöriger eines Drittstaates, der in die Niederlande einreist, ungehindert in jeden weiteren Staat des Abkommens reisen. Entsprechend haben die Vertragsstaaten ihre Visumspolitik harmonisiert. Nunmehr gibt es das sogenannte "Schengen Visum", das zum Aufenthalt im gesamten Schengen-Raum binnen drei Monaten berechtigt.

Beachtenswert ist, daß die Außengrenze eines Schengen-Staates auch zu EU-Mitgliedsstaaten als Außengrenze gilt, soweit diese das Abkommen nicht unterzeichnet haben; ein Beispiel dafür ist die deutsch-dänische Grenze, wo nach wie vor Paß- und Zollkontrollen stattfinden. Weiterhin kann ein Mitgliedsstaat "aus Gründen der nationalen Sicherheit" für einen begrenzten Zeitraum von den Bestimmungen des Vertrages abweichen. So hielt Frankreich, wegen der liberalen niederländischen Drogenpolitik, lange an Personenkontrollen an der belgischen Grenze fest.

Der Verzicht auf Grenzkontrollen soll durch eine intensivierte polizeiliche Zusammenarbeit, die ja auch tatsächlich erfolgte, ausgeglichen werden. Mittels des Schengener Informationsystems wird ein kompliziertes Datensystem zum Abgleich von Fahndungsdaten ermöglicht; nicht zuletzt deswegen ist das Schengener Abkommen vielen deutschen Datenschützern ein Dorn im Auge. Besonderes Augenmerk gilt dem Asylrecht. Gemäß Schengen entscheidet ein Vertragsstaat über einen Asylantrag nach seinem Recht für alle anderen Vertragsstaaten mit. Dies erwies sich in der Praxis als Ursache einiger Verwicklungen. Oft war der zuständige Staat, im Zweifel der, in dem der Antrag gestellt wurde, nicht eindeutig auszu-
machen.

Mit dem 1990 ebenfalls Unterzeichneten Dubliner Abkommen wurde hier eine einheitliche Regelung zur Prüfung von Asylanträgern versucht, bislang mit wenig Erfolg.

Die gesamte Konzeption des Schengener Abkommens geht auf die achtziger Jahre zurück. Zu diesem Zeitpunkt waren einige der Probleme, die den Grenzalltag der Schengenstaaten prägen, noch gar nicht absehbar, weder der Zusammenbruch des Eisernen Vorhanges noch eine daraus resultierende Erweiterung des Vertragsgebietes um Staaten wie Österreich dürften bei der Unterzeichnung von Schengen I 1985 eine Rolle gespielt haben. Hunderte Kilometer von Außengrenzen mit osteuropäischen Staaten, davon hatte das ganz auf westeuropäische Verhältnisse zugeschnittene Abkommen nur träumen können. Man konnte vielmehr eine auf undurchlässige Außengrenze im Osten, nämlich die Grenze mit der DDR und der Tschechoslowakei, ausgehen.

Wohl in Anbetracht dieser Umstände verabschiedeten die Vertragsparteien 1993 eine "Gemeinsame Erklärung" zu dem zweiten Schengener Abkommen, in der betont wird, daß der Vertrag erst umgesetzt werden kann, wenn in den Unterzeichnerstaaten die Voraussetzungen für eine Anwendung des Abkommens erfüllt sind und Kontrollen an den Außengrenzen "tatsächlich erfolgen".

Inwieweit diese Kontrollen tatsächlich erfolgen, darüber entscheidet der Schengener Exekutivausschuß, zusammengesetzt aus den Innenministern der Vertragsstaaten, mit Einstimmigkeit. Frankreich etwa setzte die Anwendung des Schengener Abkommens aus asylrechtlichen Gründen 1993 aus, bis die Verfassung den Bestimmungen des Schengener Abkommens angepaßt wurde. Auch Griechenland und Italien hatten zeitweilig, wegen technischer Probleme, die Anwendung des Abkommens zurückgestellt.

Italien dürfte auch jetzt wieder zu dem Vertragsstaat werden, in dem die tatsächliche Durchführung von Kontrollen an der Außengrenze auf unerwartete technische Schwierigkeiten stoßen dürfte. Eine Massenimmigration über die Adria, das hätte man 1985 wohl zu keinem Zeitpunkt erwartet. Jeder Staat des Schengener Abkommens, soviel kann festgestellt werden, würde einer Fluchtbewegung über die Meere ähnlich hilflos gegenüberstehen wie jetzt Italien. Durch das Schengener Abkommen sind alle Vertragsstaaten gleichermaßen verpflichtet.

Insoweit entbehren die italienischen Forderungen nach Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung nicht einer gewissen Berechtigung. In jedem Fall wird hier deutlich, wie sehr das Schengener Abkommen wie überhaupt die gesamten Bestrebungen zur europäischen Einigung auf das Europa des Eisernen Vorhangs ausgerichtet waren.


 
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