© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/98  23. Januar 1998

 
 
Liberalismus im Elchtest
von Hrvoje Lorkovic

Mit dem Namen Francis Fukuyama wird der Glaube an eine "andere" Endzeit, die des Erreichens der gesellschaftlichen Perfektion, verbunden. Der japanisch-amerikanische Politologe ist davon überzeugt, daß nach den schweren Fehlern und irrationalen Widersprüchen älterer Machtformen (an denen sie auch zusammenbrachen) als einzig lebenstüchtige sich die liberale Demokratie erwiesen habe. Die ideologische Evolution sei damit beendet, meint er.

Das Ende der Geschichte sei nicht seine Erfindung, behauptet Fukuyama, es sei, außer in verschiedenen Religionen, in den Ansichten von Hegel und Marx impliziert. Beim Aufstieg zur liberalen Demokratie sollte die Naturwissenschaft (Technologie eingerechnet) eine unumgängliche, aber nicht ausreichende Rolle gespielt haben. Die echte Menschlichkeit, darüber ist sich der Autor mit Hegel einig, erwächst erst aus der Versetzung des höchsten Lebensziels von der Erhaltung des Lebens zum Erlangen der Anerkennung der eigenen Würde.

Die dafür erforderliche geistige Einstellung heißt bei Plato "Thymos". Darin soll sich ein erstes Zeichen der Freiheit spiegeln; das Ziel des Kampfes ist nicht mehr von der "Biologie" bestimmt. Die Anerkennung wird zunächst erzwungen, wobei die Kontrahenten ihr Leben aufs Spiel setzen müssen. Der Besiegte muß sich mit dem Status des Sklaven oder des Knechts begnügen. In der liberalen Demokratie sei das nicht mehr nötig: Nach der amerikanischen und der französischen Revolution sei der Unterschied zwischen Herren und Sklaven aufgehoben worden. Der Beherrschungs- und Unterdrückungswille seien jetzt durch den rationalen Wunsch, als Gleicher anerkannt zu werden, ersetzt.

Fukuyamas Kritiker waren vom Erreichen des endgültig befreienden sozialen Zustandes nicht überzeugt und warnten vor der Blindheit des Autors für die totalitären Gefahren rund um die Oasen der liberalen Demokratie. In seinem Buch "The End of History and the Last Man" (London 1992), das dem provokanten Artikel "End of History" von 1989 folgte, zeigt sich Fukuyama elastischer. Er macht sich zuweilen über die Befindlichkeiten des modernen Menschen lustig, bleibt aber bei seinem Credo, die liberale Demokratie sei als Ideal unübertroffen, in dieser Hinsicht sei die Geschichte der Menschheit, wenn nicht beendet, so doch wenigstens zu Ende gedacht worden.

Nachdem sich die Wogen der Aufregung über den ideologischen Leichtsinn Fukuyamas geglättet haben, ist es angebracht, über die Gründe seiner Provokation zu spekulieren. Könnte es nicht sein, daß der reifende Politologe den unerschütterlichen Glauben an die liberale Demokratie als Bekenntnis verkündete, nur um die Hand zur Wiedereinführung des Thymos freizumachen? Denn dieser ist ja nicht nur im realen Sozialismus streng kanalisiert worden, sondern eben auch in den freundlichen Auen der Liberalität.

Es geht hier um den Unterschied zwischen zwei Formen der Würde. Die eine ist jene, die von einer liberalen Verfassung jedem garantiert wird ("Die Würde des Menschen ist unantastbar"). Sogar dann, wenn der Dieb seine Sozialberaterin ersticht, bleibt seine Würde intakt. Es ist anders mit der Ehre, die durch den Thymos erworben wird. Nach dem Unterschied fragt man aber nicht gern; Thymos klingt politisch inkorrekt. Fukuyama fragt danach – auf besondere Weise. Er beruft sich auf Hegel als Urheber des Liberalismus, bei dem schon der platonische Thymos vom christlichen Bann befreit wurde.

Fukuyama scheint sich des Unterschieds zwischen der garantierten und der zu erwerbenden Würde bewußt. Er kennt somit auch die Schwierigkeiten, die mit der Einführung des platonischen Thymos in die liberale Demokratie auftreten müssen, gibt es aber nicht offen zu. Denn Thymos verlangt von einem nicht weniger, als besser zu sein als sein Kontrahent. Das Streben nach Exzellenz läßt sich nicht mit Gleichstellung befriedigen, eine Versöhnung beider ist nicht machbar. Deshalb lassen sich auch durch modernste Klontechnik keine Kohorten kadaverdisziplinierter Soldaten züchten, von denen alle zugleich superintelligent wären. Hinter der Angst, dies könnte doch gelingen, versteckt sich eben der Aberglaube der technischen Machbarkeit.

Eine andere Art von Kritik erwähnt Fukuyama nicht, was vermuten läßt, daß er nie mit ihr konfrontiert wurde. Für ihn, wie auch noch für Hegel, scheint die Möglichkeit, daß der Mensch nicht der Urheber der gesellschaftlichen Ordnung und des Thymos ist, kaum denkbar zu sein. Und doch wissen wir heute so gut wie man nur etwas wissen kann, daß es beide (den Thymos in der Form des Strebens nach Dominanz in der eigenen Gruppe) schon lange vor der Entstehung des Menschen in weiten Bereichen des Tierreiches gab. Genauso gut wissen wir, daß die Vorstellung vom "homo homini lupus" und von der Wende zum gesellschaftlichen Vertrag so mythologisch ist wie die Vorstellung der Erschaffung des Menschen aus Lehm. Der ehrwürdige Diplomat Hobbes hatte noch keine Ahnung von der exzellenten Kooperation und Solidarität der Wölfe untereinander. Mit Thymos allein gelingt es also dem Menschen keineswegs, sich von der Biologie zu befreien. Anstatt sich auf Experten auf diesem Gebiet zu berufen, verweilt der Politologe lieber im Bereich des uralten Glaubens. Dabei wird der Thymos durch die Erkenntnisse über seine tiefen Wurzeln keineswegs abgewertet, ganz im Gegenteil. Die Verbreitung der mit ihm verbundenen Phänomene zeugt von der Wichtigkeit seiner Rolle beim Menschen.

Da es den feudalen Herrschern nicht gelungen ist, ihren Thymos zugunsten der gleichen Ehrung aller zu disziplinieren, erwartete Hegel die Wende zum rationalen Thymos von einer Revolution oder von einem napoleonischen Sieg, etwa dem von Jena 1806. Julien Benda wußte, daß dies so leicht nicht geht. In seinem Werk "Der Verrat der Intellektuellen" (1927) macht er klar, daß die Unfähigkeit des modernen Intellektuellen, seinen erhabenen Posten des unparteiischen Beobachters beizubehalten, und sein Drang, sich den Passionen des Parteiischen zu ergeben, dem Bedürfnis nach persönlicher Ehrung entspringen, die ihm in der Demokratie versagt bleibt. "Hier sind sie alle einander gleichgemacht worden", sagt er. Wenn der "Verrat" tatsächlich auf einen Mangel an Gelegenheiten zurückgeht, dem Thymos im ursprünglichen Sinne eine Chance zu geben, dann ist die Perfektion der liberalen Demokratie weniger gesichert, als Fukuyama das lieb sein kann. Der rationale Vertrag könnte ja mißbraucht werden, er könnte sogar zum Instrument einer heuchlerischen Unterdrückung und Ausbeutung werden.

Bendas Kritik bezog sich auf die Intellektuellen, die politische oder quasi-politische Ambitionen entwickelten. Es gibt aber eine weitere Gruppe von öffentlich wirksamen Individuen, die mit Bendas Intellektuellen vergleichbar sind; es sind die Künstler. Ob direkt vom Staat als Stütze der Ideologie eingesetzt oder nur als Mitläufer der Modetrends, ihr Einfluß auf das öffentliche Leben ist mit der Zeit nicht kleiner als jener der Politiker geworden. Dementsprechend ist auch die Zahl der "Bendas" gestiegen, die in diesem Sektor einen Mangel an Glaubwürdigkeit registrieren.

Der Verrat des Künstlers an einem Publikum, das ihn immer noch als Beschützer seiner Freiheiten versteht, tritt etwa bei Kishon drastisch zutage, wenn er die (echte wie falsche) Begeisterung für moderne Kunst als einen Verrat seines Verstandes beklagt, obwohl ihm in einschlägigen Fällen die Aussicht auf einen schnellen Gewinn innerhalb des Kunstbetriebs bekannt ist. Wenn jedoch der Verrat des Künstlers an seinem Publikum seine Wurzeln im Mangel an Gelegenheit, den künstlerischen Thymos auszuprägen hat, dann könnten die "Clownereien" des Künstlers ein Manöver sein, womit das demokratische "grau in grau" umgangen wird, um eine Art feudaler Freiheit zu erlangen, die dem gemeinen Bürger nicht zukommt.

Die Idee, die Kunst als Streben nach Thymos zu betrachten, öffnet die Tür zu weitreichenden soziologischen Vergleichen zwischen den modernen Künstlern und den Aristokraten alter Zeiten. Dem eigenartige Klassenbewußtsein des Künstlers entspringen Definitionen der Kunst, wie die von Warhol oder Beuys, die als neuartige "Chartas" verstanden werden können, die die Rechte des Künstlers auf kritiklose Anerkennung fordern. Neue Analysen könnten dazu verhelfen, den Steuerzahler vom Mythos des Künstlers als Befreier zu befreien. Auch wenn er sich selbst durch romantische Vorstellungen seiner Rolle benebelt, ist der moderne Künstler eher ein Hybrid der Technikgläubigkeit, des pseudoegalitären Klassenbewußtseins und des Glaubens an seine Unersetzlichkeit.

Vielleicht kommen aber Vergleichsstudien zu spät: die Ära der "freien" Kunst kommt zu ihrem Ende, so wie es mit den großen Finanztransaktionen der Fall sein sollte. Der Glaube an den ewigen Frieden zwischen Gleichgestellten hat die liberale Welt bis zum Abgrund unkontrollierbarer Konflikte gebracht. Die ideologische Evolution scheint also keineswegs, wie Fukuyama annahm, an ihr Ende gelangt zu sein.


 
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