© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/98  06. Februar 1998

 
 
Arbeitslosigkeit: Französischer Protest schwappt nach Deutschland
Wir wollen Arbeit!
Von Michael Wiesberg / Dieter Stein

Nur noch apathisch reagieren die meisten Deutschen auf die neuen Arbeitslosenzahlen, die allmonatlich die Bundesanstalt für Arbeit aus Nürnberg verkündet: Nun werden für den Januar rund 4,8 Millionen Arbeitslose gemeldet – eine neue Rekordmarke in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Eine Lösung für die beschäftigungspolitische Misere in Deutschland ist indes nicht in Sicht.

Doch die Betroffenen selbst wollen nicht mehr stillhalten und sich von der Politik vertrösten lassen. "Die Menschen werden sich nicht mehr in Mauselöchern verkriechen," sagt Ingrid Schindler, Geschäftsführerin der Arbeitsloseninitiative Thüringen, im Gespräch mit dieser Zeitung. Seit Donnerstag dieser Woche wollen Arbeitsloseninitiativen deutschlandweit in über 200 Städten durch Protestaktionen auf sich aufmerksam machen – in bislang nicht gekanntem Ausmaß.

Vorbild für diese Aktionen ist eindeutig Frankreich, wo die Proteste bürgerkriegsähnliche Formen anzunehmen drohten. Schon werden deshalb hierzulande Stimmen laut, wonach man "einen entfesselten Aufstand der deutschen Straße mehr fürchten müßte als die Aktionen der in freier Luft erfahrenen Franzosen", wie die FAZ meint. Und auch Bundesarbeitsminister Norbert Blüm sorgt sich bereits um "französische Verhältnisse" in Deutschland – und ruft die Arbeitgeber zu Hilfe. Sie hätten die Pflicht, neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Gegenüber der jungen freiheit erhoben Sprecher der Arbeitsloseninitiativen schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung, angesichts der Wirtschaftskrise in Deutschland zu versagen. Ingrid Schindler wirft Bonn vor, mit der Einführung des Euro den deutschen Arbeitnehmern zu schaden. Vom Euro profitierten die Konzerne und nicht die Arbeitslosen (lesen Sie die Interviews auf den Seiten 4 und 5).

Es gibt wenig greifbare Lösungsvorschläge aus der wirtschaftlichen Misere. Deutschland, so ein Erklärungsansatz, hat als Investitionsstandort eben deutlich an Attraktivität verloren. Wesentlich mehr Investitionen werden von Deutschen im Ausland als von Ausländern in Deutschland getätigt. Folglich gerät die deutsche Wirtschaft mehr und mehr zwischen die Mühlsteine der Niedriglohnländer einerseits und der Hochtechnologieländer Japan und USA andererseits. Der untere Mühlstein drohe, Schicht für Schicht der klassischen deutschen Produktionen wegzureiben, der obere Mühlstein diejenigen der Hochtechnologie-Branchen.

Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes spiegelt sich in der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität. Betrachtet man die Produktivitätsentwicklung in den letzten vier Jahrzehnten, läßt sich eine starke Annäherung der Produktivitätsniveaus der führenden OECD-Länder beobachten. Sie liegen heute näher beieinander als je zuvor. An der Arbeitsproduktivität in Deutschland kann es also nicht liegen.

Unternehmen müssen national in die Pflicht genommen werden

Deshalb, so eine andere These der Standortdebatte, müssen die Gründe in der vermeintlichen Tatsache zu suchen sein, daß wir über unsere Verhältnisse leben. Tun wir dies aber wirklich? Ist das inländische Kostenniveau tatsächlich zu hoch, wie ständig behauptet wird? Wenn diese Behauptung zutrifft, müßte die deutsche Wirtschaft vor allem im Handel mit den dynamischen Niedriglohnländern in Südostasien sowie Süd- und Osteuropa ins Hintertreffen geraten. Denn hohe inländische Kosten, insbesondere hohe Löhne, haben – so die Logik der Standortthese – zur Folge, daß in Deutschland zunehmend Arbeitsplätze den Importen aus Niedriglohnländern zum Opfer fallen, während es den Exportbranchen immer schwerer fällt, ihre teuren Erzeugnisse in diese Ländern abzusetzen. Auch dies ist falsch. Von 1985 bis 1994 stiegen sowohl die Exporte nach als auch die Importe aus Südostasien sowie Süd- und Osteuropa wesentlich rascher als der Handel mit dem Rest der Welt. Jedes Land – unabhängig von seinem absoluten Kostenniveau – exportiert diejenigen Güter, die es relativ am billigsten herstellen kann. Indem sich die Länder auf die Produktion solcher Güter spezialisieren, steigen die Realeinkommen aller am Handel beteiligten Länder.

Allerdings fallen bei einer sich verstärkenden weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung Kosten des Strukturwandels an. Oftmals entstehen dabei die neuen Arbeitsplätze nicht nur in anderen Sektoren, sondern auch in anderen Regionen.

Um die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes kommen wir so oder so nicht herum, da sind sich alle Beteiligten einig. Die Entwicklung des Arbeitsmarktes kann den Strukturwandel nur auffangen, weil Arbeitsplätze in den von ausländischer Niedriglohnkonkurrenz bedrohten Branchen zumindest zeitweilig gesichert werden können. Dies setzt aber einen politischen Willen voraus, diese Flexibilisierung durchzusetzen. Und genau vor diesem Schritt schreckt die Bundesregierung zurück. Denn die Konsequenzen können nur heißen: Abbau der sozialen Leistungen und Ende der Flächentarifverträge. Diese Maßnahmen würden zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit der Umverteilungs-Lobby aus Gewerkschaften, Großteilen der Medien sowie SPD und Bündnisgrünen führen – das steht außer Zweifel. Aber es gibt nur diesen einen Weg. Darüberhinaus müssen die Unternehmen national in die Pflicht genommen werden. Die Verlagerung von Kapital ins Ausland darf nicht belohnt werden. Der Euro als soziales Erpressungsinstrument von Banken und Großindustrie gegen die nationalen Volkswirtschaften in Europa muß kippen. Wenn nicht, kommt es zu einer nicht mehr zu heilenden Erosion des sozialen Netzes in Deutschland.


 
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