© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/98  06. Februar 1998

 
 
Spezialisten für das Gemeinwohl
von Ulrich Deuschle

Der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Jürgen Rüttgers, bemerkte im Düsseldorfer Handelsblatt (Ausgabe vom 13. Oktober 1997) zum Thema "Eliten" folgendes: "Zur Elite zu gehören ist in Deutschland kein Geburtsrecht oder ein Ausweis besonderen Wohlstands, sondern ein Verdienst. Elite ist nur, wer etwas leistet für das Gemeinwohl. Eliten in einer demokratischen Gesellschaft sind grundsätzlich offen für Neue und Neues. Jeder hat die Möglichkeit, sich für Führungspositionen zu qualifizieren. Der faire Wettbewerb der besten Köpfe entscheidet über die Mitgliedschaft."

Der Begriff der Elite hat also – legt man Rüttgers Bestimmung zugrunde – etwas mit "sozialer Siebung" zu tun. Führt man den Begriff auf seine französische (élire) oder lateinische (eligere) Wurzel zurück, dann sind Eliten das Ergebnis eines Auslese-Prozesses. Die Distanz, mit der eine demokratische Massengesellschaft dem Thema "Eliten" begegnet, erklärt sich zu einem guten Teil aus seiner Entwicklungsgeschichte. Zum eigenständigen Thema wurden die "Eliten" erst mit dem Zerfall der "societas civilis" Ende des 18. Jahrhunderts. Bis dahin fiel dem Adel automatisch die Rolle zu, die Verkörperung der Elite schlechthin zu sein. An die Stelle des Adels trat mit der Französischen Revolution zunehmend die Vorstellung, daß das Kriterium für die Elitenrekrutierung nicht das Herkommen, sondern das Leistungsprinzip sein müsse.

Diese Vorstellung verschränkte sich mit der allmählichen Herausbildung der Massengesellschaft, deren Tendenz zum rigorosen Gleichheitsdenken ("Egalitarismus") quasi notwendigerweise die Herausbildung von Eliten in Frage stellt. Auf diese Tendenz zum Egalitarismus ist in Deutschland auf vielfältige Art und Weise reagiert worden. So übte Friedrich Nietzsche mit seiner Vision einer neuen Aristokratie insbesondere auf die europäische Rechte großen Einfluß aus.

Der ideologische "Egalitarismus" der demokratischen Massengesellschaft war auch der entscheidende Grund für die scharfe Kritik des deutschen Konservativismus am Parlamentarismus der Weimarer Republik. An dieser Stelle sollen exemplarisch nur Edgar Julius Jung ("Die Herrschaft der Minderwertigen") oder Carl Schmitt ("Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus") angeführt werden. Angezweifelt wurde von seiten dieser Konservativen insbesondere die Fähigkeit dieser politischen Ordnung, geeignete Eliten zu rekrutieren. Eine Kritik, die von hoher gegenwartspolitischer Bedeutung ist.

Diese Ausrichtung der konservativen Kritik änderte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vollkommen. Wurden in der Weimarer Republik noch Modelle charismatischer Herrschaft in Verbindung mit oder ohne ständischen Aufbau diskutiert, versteht sich konservative Kritik in der Bundesrepublik heute als Moment der Systemstabilisierung. Ein Topos konservativer Kritik hielt sich allerdings: die Frage, wie eine angemessene Auswahl der Tüchtigsten nach meritokratischen (am Verdienst, an der Leistung orientierten) Grundsätzen vorzunehmen ist. Vor dieser Frage stehen wir – nach nun bald 30jähriger Kulturrevolution von links – erneut.

Aus diesem Grunde werden hier die Worte des derzeitigen Bundesbildungsministers Rüttgers als Eingangszitat verwendet. Wer heute von "Eliten" redet, sieht sich in der Regel heftigen Reaktionen ausgesetzt. Strittig ist in diesem Zusammenhang so ziemlich alles: von der Frage, wer denn überhaupt zur Elite zu zählen sei, bis hin zu der Tatsache, daß dreißig Jahre rigoroser ideologischer Egalitarismus eine geradezu reflexhafte Ablehnung des Begriffes "Elite" hervorruft. Auch dies ein Verdienst der sogenannten 68er, deren Verteufelung jeder Form von Leistung in Deutschland lange Zeit geradezu Programm war – und in vielen Bereichen auch noch immer ist.

Schaut man auf die Sozialwissenschaften, dann scheint es bei der Eingrenzung derer, die zur "Elite" gezählt werden können, wenig Probleme zu geben. "Elite" ist, wer gesellschaftlich relevante Entscheidungen regelmäßig und maßgeblich beeinflußt. Mit anderen Worten: hier sind die Inhaber der höchsten Führungspositionen gemeint, die dementsprechend "Positionseliten" genannt
werden.

Wie problematisch die Gleichsetzung dieser "Positionseliten" mit dem traditionellen Begriff von "Elite" ist, zeigt beispielsweise die Parteienkritik des Verwaltungswissenschaftlers Hans Herbert von Arnim oder des Soziologen Erwin Scheuch. Ihre Kritik zeigt deutlich, daß Spitzenpositionen in Parteien und damit in der Politik mitnichten auf herausragende Leistungen, sondern eher auf das Prinzip "Cliquen, Klüngel und Karrieren" zurückzuführen sind. Der traditionellen Werteelite entsprechen die Inhaber dieser Führungspositionen also nicht, was uns zu einem anderen wesentlichen Punkt der gegenwärtigen Diskussion führt, nämlich zum "Wertewandel", an dem deutlich wird, wie umfassend die Vorstellungen der "68er" heute unser Gemeinwesen prägen.

Bildeten die "harten" Ziele stabile Wirtschaft, Ruhe und Ordnung sowie außenpolitische Sicherheit lange Zeit das Korsett der Politik, so konstatieren wir heute bezüglich dieser Ziele einen grundlegenden Wertewandel hin zu den sogenannten "weichen" Themen wie politische Beteiligung, Schutz von Minderheiten, Emanzipation der Frauen, Selbstverwirklichung. Diese Themen waren in den siebziger und achtziger Jahren en vogue und prägten die heutige Führungsgeneration, die an die Stelle der im Dritten Reich sozialisierten Führungsgeneration trat. Dementsprechend überfordert ist diese Generation mit den gewaltigen Problemen, die heute auf Deutschland lasten.

Eine Generation, deren Sinnen und Trachten stets der Machtkontrolle und -begrenzung gegolten hat, eine Generation, die mit entscheidend daran beteiligt war, daß sich unsere "Wohlfahrtsgesellschaft" in eine "Neid- und Umverteilungsgesellschaft" verwandelt hat, kann auf die existenziellen Probleme unseres Gemeinwesens keine adäquate Antwort mehr geben. Dazu paßt, daß große Teile der Wohlstands- und Protestgeneration hierarchische Modelle der Führung ablehnen. Interessen, die hart aufeinanderstoßen, wollen unsere harmoniesüchtigen Eliten durch Konsensfindung auflösen. Es grüßt hier der "herrschaftsfreie Diskurs" à la Habermas.

Dieser Befund wird durch die jüngst veröffentlichte "Potsdamer Elitestudie" bestätigt. Wir befinden uns inzwischen in einer Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die normative Begründung der politischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland mit den Wertorientierungen der derzeitigen Führungsschicht immer weniger übereinstimmt. Die heutigen Eliten sind so wenig elitenbewußt, wie es keine deutsche Führungsschicht vorher war. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, wenn die deutsche Bevölkerung zunehmend einen Mangel an politischer Führung moniert. Viele kritisieren, daß es der Bundesregierung an der nötigen Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit fehlt, sich über widerstreitende Interessen hinwegzusetzen. So kann es nicht überraschen, wenn in der Potsdamer Studie weiter festgestellt wird, daß mehr Menschen in Deutschland den Eindruck haben, es werde zwar viel über Reformnotwendigkeiten geredet, aber wenig getan. So breitet sich zunehmend das Gefühl aus, daß Deutschland für die Zukunft schlecht gerüstet ist. Wir haben also ein beschädigtes Vertrauensverhältnis zwischen den Bürgern und der politischen Führung in Deutschland. Auch dies läßt sich in Zahlen fassen: 80 Prozent der im Rahmen der "Potsdamer Elitestudie" Befragten sind der Auffassung, daß die Führungskräfte in der Politik ihrer Aufgabe nicht gerecht werden.

Wenn Bildungsminister Rüttgers völlig richtig feststellt, daß "Eliten Spezialisten für das Gemeinwohl" seien, "die die Bereitschaft mitbringen, sich über die bekannten und vertrauten Grenzen ihrer Disziplinen hinaus zu verständigen", dann ist diese Definition für die Rekrutierung von politischen Führungspersönlichkeiten in Deutschland gerade nicht einschlägig.

Wer von "Elite" redet, muß konsequenterweise auch davon reden, wie er den institutionellen Rahmen in Deutschland so ändert, daß Eliten ihre für das Gemeinwohl segensreichen Fähigkeiten entfalten können. Hans Herbert von Arnim hat hier Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. Er will mehr "direkte Demokratie", will, daß qualifiziertes Personal wieder den Weg in die Parlamente zurückfindet. Seine Vorschläge zeigen einen möglichen Weg, wie die gegenwärtige Misere in Deutschland überwunden werden kann. Elemente der "direkten Demokratie" sind zum Beispiel die Direktwahl der Regierungschefs und der Abgeordneten sowie Volks-Bürgerentscheide. Die Möglichkeiten, die die "direkte Demokratie" bietet, sind ein erfolgversprechender Weg, das Berufspolitikertum und die Parteienherrschaft deutlich zurückzudrängen.

Die Frage nach der Bildung von Eliten ist demnach eine Schicksalsfrage für unser Volk. Dies gilt heute mehr denn je. Wer sich dieser Frage zu entziehen sucht, macht sich am Niedergang Deutschlands mitschuldig.


 
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