© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/98 20. Februar 1998

 
 
Der Wohnblock: Von Hausdrachen und anderen Großstadttieren
Wecken früh um Sechs
von Ernst Fröhlich

Frauen, die die Waschküche zu ihrem Revier erklären, Männer, die ihren Putzwahn verstecken – den soziologischen Einzigartigkeiten der menschlichen Lebensformen sind keine Grenzen gesetzt. Um sechs Uhr morgens geht es los: Die Brotschneidemaschine der Merkels, die noch im Fünfjahresplan gefertigt worden war, zerschneidet die frühmorgendliche Stille.

Der Wohnblock erwacht. Die ersten Sonnenstrahlen begrüßen die obersten Stockwerke, der Wasserdruck erlaubt der Dusche ein erfrischendes Tröpfeln, und die Toilettenspülungen gurgeln ihre Wasserspiele.

Das neurotische Quietschen der Türangel einen Stock höher zeigt, daß die Klingers heute nicht verschlafen haben, der Raucherhusten von Herrn Pirolt im unteren Stock stellt sicher, daß ihnen dazu auch gar keine Chance bleibt. Dann hört man das erste Getrappel im Treppenhaus: Die neu eingezogenen, jungen Brandstätters bilden sich doch tatsächlich ein, als einzige nicht den Lift benützen zu müssen! Prompt geht die Tür im Erdgeschoß auf, und die alteingesessene Frau Meier weist den Frischling zurecht, daß in diesem Haus auch alte Leute wohnen, die bis neun Uhr schlafen wollen, und die Schritte seien da am frühen Morgen viel zu laut. In Wirklichkeit hat Frau Meier schon seit zehn Minuten angestrengt an der Tür gelauscht, um den jungen Brandstätter nur ja nicht zu verpassen.

Dann schwärmen die ersten aus dem Haus, um ihrer Arbeit nachzugehen; nur Fräulein Angerer kommt zu ihrer Mutter gehetzt, um ihr Kind abzuholen und in den Kindergarten zu bringen.

Den wachsamen Augen der alten Merkel ist nicht entgangen, daß sich die ledige Angerer wieder die ganze Nacht herumgetrieben hat; vermutlich mit einem liederlichen jungen Mann, dieses Luder!

Der alte Herr Weingartner führt seine Katze spazieren, was wiederum Frau Meier auf den Plan ruft, die stets in der Befürchtung lebt, die Weingartnerkatze könnte von dem Futter fressen, das sie für ihre Lieblinge unter den Baum beim hauseigenen Kinderspielplatz plaziert hat.

Darum müssen sich auch die Kinder immer von diesem Baum fernhalten. Frau Brandstätter sucht inzwischen verzweifelt in der Waschküche im Keller nach einem Gegenstand, der nicht mit dem Namen "Meier" beklebt ist; Gott sei Dank ist wenigstens die Waschmaschine Gemeinschaftseigentum. Als sie artig mit dem Lift wieder in ihren Stock fährt, überrascht sie den scheuen Herrn Pflanzleitner dabei, wie er in Unterhemd und Unterhose auf seinem Fußabstreifer kniet und die Fliesen rundherum wischt. Während sie mit erschrockener Hast den Wohnungsschlüssel aus ihrer Hosentasche fingert, um diesem schamvollen Anblick zu entgehen, beeilt er sich, Kübel und Bodenfetzen so flott wie möglich hinter die eigene Tür zu bringen. Pflanzleitner hat in all den Jahren, in denen er schon hier wohnt, nur selten mit den anderen Mietern gesprochen, und jetzt soll er sich vielleicht rechtfertigen müssen, wenn die Wahrheit darüber ans Licht kommt, daß er schmutzige Fliesen haßt, wie die Pest? Da würde er sich schon lieber für zwei Wochen in seiner Wohnung verkriechen und so tun, als sei er nicht zu Hause.

Das Geschrei der Kinder im Treppenhaus, die von der Schule nach Hause kommen, läßt den alten Pirolt aus dem Mittagsschlaf aufschrecken. Freilich, es stimmt schon, daß die Gören alleine nicht mit dem Lift fahren dürfen, aber dann sollen sie wenigstens die Klappe halten, wenn sie das Haus betreten. Er hält kurz inne, hustet dann aber doch ein paar Bröckchen heraus, bevor er sich seine erste Nachmittagszigarette ansteckt, damit auch die Klingers aufwachen – sollten sie mitten am Tag geschlafen haben, wo jeder normale Mensch arbeiten geht.

Am Abend dann faltet Frau Meier ihren Campingsessel zusammen, in dem sie an der Hauswand in der Sonne gesessen hat. Die letzten Kinder haben gerade ihre Fahrräder verstaut, da droht ihren vierbeinigen Lieblingen keine Gefahr mehr. Als es still wird im Wohnblock versucht jeder, so leise wie möglich zu sein, um wenigstens den Abend alleine, ohne seine Nachbarn, genießen zu können. Nur die alte Frau Merkel späht verstohlen aus ihrem Fenster im fünften Stock. Sie traut dem Frieden nicht ganz und wird sich erst dann mit ruhiger Seele den Musikantenstadl anschauen können, wenn ihr nicht entgangen ist, daß die junge Angerer sich nach Einbruch der Dunkelheit schon wieder heimlich aus dem Haus gestohlen hat, dieses Luder!


 
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