© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/98 27. Februar 1998

 
 
Manipulierte Moral
von Ernst Topitsch

In seiner unverändert aktuellen Schrift "Die Schuldfrage hat Karl Jaspers scharfe Kritik daran geübt, wenn moralische Anklage im Dienst "etwa politischer oder wirtschaftlicher Zwecke als Waffe (Hervorhebung im Original) benutzt wird … Moralische und metaphysische Vorwürfe sind als Mittel für politische Willenszwecke schlechthin zu verwerfen". Sie sind aber nicht nur verwerflich, sie können auch moralzerstörend wirken.

Seit frühesten Zeiten bestanden moralische Verhaltensregeln meist nur gegenüber Gruppengenossen, nicht aber gegenüber Gruppenfremden und zumal Feinden. Bestürzend, aber unzweideutig zeigt sich das gerade in einem der klassisch religiösen Texte, dem Alten Testament. Hier tritt Gott nicht nur als Befehlender, sondern buchstäblich selbst als Täter des Genozids auf. So befiehlt der Gott durch Samuel dem König Saul: "Geh hin und schlage die Amalekiter und unterwirf sie dem Bann, alles was zu ihnen gehört! Verschone sie nicht! Töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel" (1 Sam. 15,3). Als er diesen Befehl nicht vollständig durchführt, wird er abgesetzt. Absoluter Gehorsam ist eben geboten. An anderen Stellen vernichtet Gott selbst die gegnerischen Völker. Ihre Erschlagenen werden hingeworfen, daß der Gestank ihrer Leichen aufsteigt und die Berge von ihrem Blut fließen. Sein Gewand ist wie die eines Keltertreters, und zwar vom Blut der Völker, die er in seinem Zorn zertreten hat (Jes.34,2; 63,2). Gewiß handelt es sich hier um phantastische Ausschmückungen, die nur im Rahmen der grausamen altorientalischen Kriegführung verständlich sind. Überdies sind die geschichtlichen Ereignisse – wie auch die archäologischen Befunde nahelegen – weit weniger dramatisch verlaufen. Doch der erschreckende Grundgedanke ist hier mit aller Klarheit formuliert und hat mit dem heiligen Text die Jahrtausende überdauert: die Sakralisierung des Völkermordes.

Dieser Gedanke hat auch bei den Christen in kaum abgeschwächter Form weitergewirkt. Überhaupt ist der Christengott vielfach ein Kriegsgott geblieben, ein Lenker der Schlachten, der schließlich der "gerechten Sache" den Sieg verleiht. Sogar die Mutter Christi wurde bereits im Altertum als theótokos nikopoiós, als siegbringende Gottesgebärerin, verehrt und ist auch weiterhin Maria Victoria geblieben. Noch im Zweiten Weltkrieg stand auf dem Koppelschloß der Heeressoldaten "Gott mit uns", und von der Gegenseite scholl es herüber: "Onward Christian Soldiers". Dies widerspricht übrigens nicht dem Fünften Gebot, das oft nicht nur falsch, sondern grob irreführend mit "Du sollst nicht töten" übersetzt wird. Im hebräischen Urtext steht das Wort razach, welches nur das dem Gesetz widersprechende Töten verbietet und sich nicht auf die Todesstrafe und den Krieg bezieht.

Nicht nur im biblischen Bereich ist die Tendenz verbreitet, im politisch-militärischen Gegner den von Gott oder überhaupt moralisch Verworfenen zu sehen, sich selbst aber als den Vorkämpfer des Guten gegen das Böse, was auch im Marxismus und teilweise sogar im Nationalsozialismus nachgewirkt hat.

Dem wirkt aber nicht nur im Christentum eine andere Überzeugung entgegen: Nur der Sieg über den ebenbürtigen und zumal stärkeren Gegner bingt dem Helden Ruhm und Ehre, während die Abschlachtung Wehrloser als feige und schimpflich verpönt ist – die genaue Gegenposition zum völkermordenden Gott. Auch wird der Gegner oft als moralisch gleichwertig anerkannt und hat als Gefangener Anspruch auf ritterliche Haft. Das Selbstwertgefühl des tapferen Kämpfers verbindet sich mit der Standessolidarität meist adeliger Krieger.

Eine Begrenzung und Ritualisierung von Konflikten kann sich auch aus dem Interesse der Kontrahenten ergeben, doch hält sie meist nur, so lange dieses Interesse besteht. Noch heute gilt das Wort des einstigen österreich-ungarischen Generalstabschefs Conrad von Hötzendorff: "Das Völkerrecht ist eine ephemere Rechtsbasis, die dem Schwächeren sicheren Schutz nicht gewährleistet, dem Stärkeren aber, der es nach Belieben modelt, als Maske dient, seine Gewaltakte zu bemänteln." Ganz ähnlich hat Churchill in seiner Rede zum Kriegsende in Europa vor der Gefahr gewarnt, daß die Weltorganisation der UN ein "leerer Schall bleibt, dem Starken ein Schild und dem Schwachen ein Hohn".

Auch hat noch nie ein Fürst, ein Diktator oder eine demokratische Regierung erklärt, einen ungerechten Krieg zu führen, und kein Staat hat aus rein moralischen Motiven auf wichtige Vorteile verzichtet oder wesentliche Nachteile in Kauf genommen. Vielmehr haben sich die Mächtigen ihre ideologischen Domestiken, etwa Moraltheologen oder Kronjuristen, gehalten, die die vergangenen oder zukünftigen Handlungen ihrer Patrone zu rechtfertigen hatten, und im Ernstfall sind hundert moralische Gründe leichter verfügbar zu machen als eine einzige kriegsstarke Kompanie.

Diese wenigen Beispiele können natürlich nur illustrieren, wie plastisch moralische Vorstellungen und rechtliche Konventionen sind, wie sehr sie oft von politischen und wirtschaftlichen Interessen abhängen und wie extrem mitunter ihre Inhalte einander widersprechen können. So ist denn auch Moral als praktisch beliebig einsetzbare Waffe in der Geschichte nicht die Ausnahme, sondern fast die Regel gewesen.

Eine derart ernüchternde Bilanz steht freilich in schroffem Widerspruch zu dem oft erhobenen Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Moral. Immerhin schließt sie nicht aus, daß es solche Normen geben kann, die von allen Beteiligten zumindest grundsätzlich anerkannt und beachtet werden. Deren Glaubwürdigkeit hängt aber entscheidend davon ab, daß sie zwischen Freund und Feind, zwischen Sieger und Besiegtem keinen Unterschied machen. In ähnlichem Sinne hat auch Jaspers in seinem "Nachwort 1962" den Nürnberger Prozeß kritisiert: "Er war im Effekt ein einmaliger Prozeß von Siegermächten gegen die Besiegten, bei dem die Grundlage des gemeinsamen Rechtszustandes und Rechtswillens der Siegermächte fehlte. Daher hat er das Gegenteil erreicht von dem, was er sollte. Nicht Recht wurde begründet, sondern Mißtrauen gegen das Recht gesteigert." Auch der amerikanische Ankläger Telford Taylor hat in seinem Buch "Nürnberg und Vietnam" dieses Problem angesprochen: "Den Feind – vor allem den besiegten – für Handlungen zu bestrafen, die von der rechtsprechenden Nation selbst begangen worden sind, wäre von solch schreiender Ungerechtigkeit, daß dadurch das Kriegsrecht selbst in Mißkredit gebracht würde". Und was für das Recht gilt, gilt sinngemäß auch für die Moral, die leicht als ancilla politicae, als Dienstmagd der Politik, in Verruf gerät.

Immerhin ist sogar das Nürnberger Gericht zu dem bemerkenswerten Entschluß gekommen; zwar könne ein Freischärler "seinem Lande große Dienste erweisen und im Erfolgsfalle sogar ein Held werden, jedoch für den Feind ein Kriegsverbrecher sein und als solcher behandelt werden … Wir glauben, daß der Grundsatz feststeht, daß ein Zivilist, der an Kämpfen teilnimmt, sie unterstützt oder sonst fördert, sich der Bestrafung als Kriegsverbrecher im Rahmen des Kriegsrechts aussetzt". Das ist auch heute noch wichtig. Wenn sich nämlich die Bilder der ominösen "Wehrmachts-ausstellung" vor allem auf die Bekämpfung der (kommunistischen) Partisanen in Weißrußland und Serbien beziehen, so müßte von Fall zu Fall geklärt werden, ob es sich um Hinrichtungen im Rahmen des Kriegsrechts oder um wirkliche Übergriffe gehandelt hat, wobei zu berücksichtigen ist, daß die törichte und brutale Besatzungspolitik dem Partisanenwesen erheblich Vorschub geleistet und die Partisanenbekämpfung auch als Vorwand für die Ermordung von Unschuldigen und sogenannten "rassisch Minderwertigen" gedient hat.

Diese Ausstellung ist ein Schulbeispiel für die Benützung der Moral als Herrschaftsinstrument und als Waffe der psychologischen Kriegführung. Längst ist es die Aufgabe der Psychostrategie, die eigenen Leute mit der felsenfesten Überzeugung von der eigenen Sache zu erfüllen, den Gegner oder das vorgesehene Opfer in Gewissenskonflikte und moralische Verwirrung zu stürzen und so seinen Willen zu lähmen. Die Kirchen wiederum haben die Menschen mit Hilfe von Schuldgefühlen jahrhundertelang in Unterwürfigkeit gehalten und dementsprechend Sündenbewußtsein kultiviert.

So bildet auch die Ausstellung ein Beispiel für den Einsatz der Moralwaffe. Sie will nicht etwa unleugbare Verletzungen des Kriegsrechts dokumentieren. Sie soll vielmehr durch völlig einseitige Darstellungen und pauschale Schuldzuweisungen – weit über die Rechtsauffassungen des Nürnberger Tribunals hinaus – das Selbstwertgefühl der Deutschen bzw. Österreicher brechen und diese zu schuldbewußter Unterwürfigkeit gegenüber den selbsternannten Monopolisten der "wahren", in Wirklichkeit zu politischen Zwecken manipulierten "Moral" nötigen. So wird ein weitverbreiteter Schuldkult inszeniert, wobei an sich plausible Grundgedanken oft zu einer getarnten Doppelmoral pervertiert werden.

Eines dieser Dogmen ist das Verbot der "Aufrechnung". Es hat zwar insofern einen guten Sinn, als unter der Voraussetzung einer allgemeingültigen Moral die deutschen Greueltaten nicht durch vergleichbare der Sieger entschuldigt oder gerechtfertigt werden können, doch darf man nicht nur einseitig den Deutschen ewige Zerknirschung verordnen. Damit verwandt ist das Dogma von der "Einzigartigkeit" oder "Singularität" der Naziverbrechen. Es ist in dem banalen Sinne richtig, daß jeder geschichtliche Vorgang seine individuellen Züge trägt und in dieser Hinsicht "einzigartig" ist. Doch gemeint ist, daß die Untaten des braunen Totalitarismus gewissermaßen um einen qualitativen, "dialektischen" Sprung verdammenswerter seien als die des roten. Doch hier bewegen wir uns in einem Bereich, dessen Furchtbarkeit schon jenseits unserer gebräuchlichen Wertvorstellungen liegt, und objektive Kriterien fehlen. Ähnliches gilt für das kriminalisierende Täter-Opfer Schema. Es trifft im Rahmen der "Wehrmachtsausstellung" auf kriegsrechtlich verbotene Handlungen zu, etwa auf Massaker an einer unbeteiligten Zivilbevölkerung oder an sogenannten "rassisch Minderwertigen", aber schon nicht auf die zulässige Hinrichtung von Partisanen, erst recht kann es nicht beliebig ausgeweitet werden. Der Verteidigung jener Dogmen dient schließlich der Trick, jeden Einwand als angebliche "Verdrängung" von vornherein abzuschmettern.

Weder sollen Greueltaten der braunen noch jene der bolschewistischen Tyrannei verdrängt werden, sondern als abschreckende Beispiele für die Ungeheuerlichkeiten im Gedächtnis bleiben, zu denen totalitärer Machtwahn und ideologischer Fanatismus imstande sind. Zugleich sollten wir uns darüber klar sein, wie leicht eine einseitig-tendenziöse Behandlung dieser Vorgänge mit Hilfe der Moralwaffe zur Etablierung eines Schuldkultes benützt werden kann, dessen Hohepriester und Inquisitoren hinter einem Schleier von Phrasen über "wahre Humanität" nur ihre eigenen machtpolitischen, ja möglicherweise totalitären Ziele verfolgen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen