© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/98 27. Februar 1998

 
 
Bilanz: Leben, Künstlertum und moralisches Selbstverständnis des Dichters Ernst Jünger
Ein Dandy, der die Bürger schockte
von Michael Meyer

Als am vergangenen Sonnabend der am 17. Februar verstorbene Ernst Jünger auf dem Friedhof seines Heimatdorfs Wilflingen im Rahmen einer feierlichen Zeremonie beigesetzt wurde, verabschiedeten sich die meisten derjenigen, die an dem vorangegangen Trauergottesdienst teilnahmen, noch einmal auf ihre eigene, individuelle Art von dem großen Deutschen. Viele hundert Menschen schritten einzeln vor das offene Grab,um im Stillen mit dem, der ihnen soviel gegeben hatte, noch ein letztes Mal Zwiesprache zu halten. Gott, der es nicht eilig mit ihm hatte, wie das Hamburger Abendblatt einmal formulierte, schenkte ihm auch an diesem Tag strahlenden Sonnenschein und eine Temperatur von 17 Grad. Den international anerkannten Entomologen begleiteten auf seinem letzten Weg zahlreiche Bienen, die die Trauergemeinde an die Vielschichtigkeit der Interessen des Ernst Jüngers erinnerten. Er besaß mit etwa 40 000 Exemplaren eine der größten europäischen Käfersammlungen; einige Insekten sind sogar nach ihm benannt. Ernst Jünger wurde am 29. März 1895 als Sohn des Chemikers Dr. phil. Ernst Georg Jünger und dessen Frau Lily in Heidelberg geboren. Zu diesem Zeitpunkt war sein Vater Assistent an der dortigen Universität.

Bereits als Schüler suchte Ernst Jünger dem normalen Leben und der ihm umgebenden Welt zu entfliehen, indem er während des Unterrichts unter seinem Pult Abenteuerromane laß. Ein Lehrer bewertete einen seiner Aufsätze zwar mit "gut", attestierte dem 17jährigen aber "eine Neigung zu gesuchter und überladener Ausdrucksweise". Von seiner Großmutter bekam er die Reisebeschreibung Henry M. Stanleys: Im dunkelsten Afrika geschenkt. Sie animierte den Primaner, am 3. November 1913 seine Abenteuerträume zu erfüllen und von Schule und geordneten Elternhaus zu fliehen. Er ließ sich von der französischen Fremdenlegion anheuern, die ihn von Marseille nach Schwarzafrika brachte. 1936 – also 23 Jahre später – veröffentlichte Jünger das Buch "Afrikanische Spiele", worin er diese Ausbruchserfahrung literarisch verarbeitete.

Es beginnt mit den Zeilen: "Es ist ein wunderlicher Vorgang, wie die Phantasie gleich einem Fieber, dessen Keime von weither getrieben werden, von unserem Leben Besitz ergreift und sich immer tiefer und glühender in ihm einnistet. Endlich erscheint nur die Einbildung uns noch als das Wirkliche, und das Alltägliche als ein Traum, in dem wir uns mit Unlust bewegen wie ein Schauspieler, den seine Rolle verwirrt. Dann ist der Augenblick gekommen, in dem der wachsende Überdruß den Verstand in Anspruch nimmt und ihn die Aufgabe stellt, sich nach einem Auswege umzusehn."

Ende 1913 erreicht Ernst Georg Jünger auf diplomatischen Weg die Entlassung seines Sohnes aus der Fremdenlegion. Die Intensität des Lebens seines Sohnes sollte sich fortan aber nicht verringern. Bereits einige Monate später, am 1. August 1914, meldete sich Ernst Jünger zusammen mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Friedrich Georg als Kriegsfreiwilliger des Ersten Weltkrieges. Am Tag der ersten Flandernschlacht bewahrt Ernst Jünger seinen jüngeren Bruder vor feindlicher Gefangenschaft, indem er den Schwerverwundeten in einer lebensgefährlichen Aktion zurück ins eigene Lager bringt. Im August 1918 sorgte eine schwere Verletzung – die Dutzendste für den Infanterieleutnant – dafür, daß der Krieg für Ernst Jünger selbst beendet war. Vier Wochen später verlieh ihm Kaiser Wilhelm II. den Pour le mérite, den höchsten preußischen Militärorden. Dieser war für Jünger die vierte Auszeichnung im Ersten Weltkrieg.

Während seines gesamten Frontdienstes führte Jünger kleine Notizbüchlein bei sich, in die er seine Erlebnisse unvermittelt eintrug. Nach dem Krieg regte sein Vater deren Veröffentlichung an. Die erste Auflage von "In Stahlgewittern", die heute eine antiquarische Kostbarkeit ist, veröffentlichte Jünger 1920 im Eigenverlag, der den Namen des Gärtners der Familie Jünger trug. Insbesondere dieses Buch – das ja nur das erste einer Reihe ist, in der Jünger seine Eindrücke aus dem ersten Weltkrieg verarbeitete – sorgt in Deutschland dafür, daß die meisten Rezensenten, bevor sie im Text den Namen Ernst Jüngers nennen, wegen dessen angeblicher Kriegsverherrlichung das Wort "umstritten" fallen lassen müssen. So getan zum 100. Geburtstag unter anderem vom Stern, in zwei Artikeln der Süddeutschen Zeitung und natürlich in den meisten Agenturmeldungen. Ein Problem haben viele Kritiker, die Jünger ein Leben lang so gern das Wasser gereicht hätten, mit der Beurteilung von André Gide, der am 1. Dezember 1942 in sein berühmtes Tagebuch einträgt: "Das Buch Ernst Jüngers über den Krieg von 1914, "In Stahlgewittern", ist unstreitig das schönste Kriegsbuch, das ich kenne, vollständig gutgläubig, wahrheitsgemäß, ehrlich. Ich bedauere aufrichtig, es (ebenso wie jenes andere, das ich in Sidi Bou Said las: "Gärten und Straßen") nicht gekannt zu haben, als er mich in der Rue Vaneau besuchte (er erwähnt diesen Besuch in dem letzteren Buch). Ich hätte mich ganz anders mit ihm unterhalten."

Jünger bleibt bis zum September 1923 in der Reichswehr und studiert anschließend in Leipzig und Neapel Naturwissenschaften und Philosophie. Der Philosophieprofessor Felix Krüger versucht vergeblich, Ernst Jünger zur akademischen Laufbahn zu bewegen.

1926 beginnt Jünger seinen Werdegang als freier Schriftsteller. Dieses Jahr ist auch der Schwerpunkt seiner nationalistischen Veröffentlichungen: Er gibt heraus "Der Aufmarsch", eine Reihe deutscher Schriften, ist Mitherausgeber der Standarte, Wochenschrift des neuen Nationalismus und von Arminius, Kampfschrift für deutsche Nationalisten.

Von 1927 bis Ende 1934 lebt Jünger in Berlin, wo er in d e n literarischen und politischen Kreisen der Weimarer Republik verkehrt. Gesprächspartner waren Nationalisten aller Arten wie Ernst Niekisch, Ernst von Salomon und Otto Strasser, linke Literaten wie Berthold Brecht und Arnolt Bronnen, verschiedenste Katholiken wie der Jurist Carl Schmitt und Franz Blei, Künstler wie Rudolf Schlichter und Alfred Kubin und viele andere Persönlichkeiten, zu denen auch Ernst Rowohlt gehörte.

Im September 1939 wurde Ernst Jünger in die Wehrmacht eingezogen. Im Juni 1941 wurde er in den Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich versetzt. Heinrich von Stülpnagel, der Anfang 1942 Millitärbefehlshabers wurde, gründete in seinem Pariser Dienstsitz, dem Hôtel Majestic eine Casino-Runde. Daneben hatte Hans Speidel, der von 1939 bis 1942 Chef des Pariser Kommandostabs war, im "Hôtel Georges V" eine danach benannte Runde einberufen, deren bekannteste Teilnehmer wohl Friedrich Sieburg und Dolf Sternberger waren. In den Strahlungen schrieb Jünger: "Unter seiner (Speidels) Ägide bilden wir hier im Innern der Militärmaschine eine Art von Farbzelle von geistiger Ritterschaft; wir tagen im Bauche des Leviathans und suchen noch den Blick, das Herz zu wahren für die Schwachen und Schutzlosen." Hans Speidel schrieb in seinen Erinnerungen. "Gespräche über den Mißbrauch der Macht unter Kniébolo, wie Ernst Jüngers Deckbezeichnung für Hitler war, prägten die Abende ebenso wie andere über die Paarung von Macht und Armut unter den großen Hohenstaufen, über Sulla, über Preußentum und Europäertum, über Tolstois "Krieg und Frieden", über die französischen Moralisten und ihre Nachfahren, über die Gefühle des schöpferischen Menschen beim Abschluß eines Werkes oder einer Konzeption." Am 21. April notiert Ernst Jünger in sein Tagebuch: "Mittags besuchte mich ein alter Niedersachse, der Oberst Schaer, Lagebesprechnung. Kein Ölzweig noch. Unter den Dingen, die er erzählte, war besonders die Schilderung einer Erschießung von Juden schauerlich. Er hat sie von einem anderen Oberst, ich glaube, Tippelskirch, den seine Armee dorthin schickte, um zu sehen, was gespielt wurde. Bei solchen Mitteilungen erfaßt mich Entsetzen, ergreift mich die Ahnung einer ungeheuren Gefahr. Ich meine das ganz allgemein und würde mich nicht wundern, wenn der Erdball in Stücke flöge, sei es durch Aufschlag eines Kometen, sei es durch Explosion. In der Tat habe ich das Gefühl, daß diese Menschen den Erdball anbohren, und daß sie die Juden dabei als kapitales Opfer wählen, kann kein Zufall sein. Es gibt bei ihren höchsten Henkern eine Art von unheimlicher Hellsichtigkeit, die nicht auf Intelligenz, sondern auf dämonischen Antrieben beruht. An jedem Kreuzweg werden sie ihre Richtung finden, die zur größeren Zerstörung führt."

Am 7. Juni 1942 tätigt Jünger eine Tagebucheintragung, die viel aussagt über sein Selbstverständnis als Repräsentant der Besatzungsmacht in Paris: "In der Rue Royale begegnete ich zum ersten Mal in meinem Leben dem gelben Stern, getragen von drei jungen Mädchen, die Arm in Arm vorbeikamen. Diese Abzeichen wurden gestern ausgegeben; übrigens mußten die Empfänger einen Punkt von ihrer Kleiderkarte dafür abliefern. Nachmittags sah ich den Stern häufiger. Ich halte derartiges, auch innerhalb der persönlichen Geschichte, für ein Datum, das einscheidet. Ein solcher Anblick bleibt nicht ohne Rückwirkung – so genierte es mich sogleich, daß ich in Uniform war."

Jünger erbot vielen Menschen, die den gelben Stern tragen mußten, den militärischen Gruß. Ansonsten half er Verfolgten, ohne darüber viel Aufheben zu machen. Der französische Schriftsteller Paul Léautaud notierte am 3. Juli 1944 in seinem Tagebuch: "Falls für die Deutschen die Dinge endgültig eine schlechte Wendung nehmen, habe ich die Absicht, mich im gegebenen Augenblick nach der Anschrift dieser ‘Propagandastaffel’ – so heißt sie, glaube ich – zu erkundigen, der Leutnant Heller angehört, ihm meiner herzlichen Empfindungen zu versichern und ihn zu bitten, sie auch Hauptmann Jünger gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Für mich gibt es in geistigen Dingen keine Grenzen, und diese bei den Deutschen haben darüber hinaus Gefühle der Sympathie für Frankreich und die Franzosen bekundet."

Doch auch sein ritterliches Verhalten konnte Ernst Jünger nicht vor dem Schreibverbot der Engländer nach dem zweiten Weltkrieg bewahren.

Am 1. Juli 1950 siedelten Jüngers nach Wilflingen über. 1970 sorgte Jünger zum wiederholten Mal für Unverständnis bei einem Teil seiner Anhänger. In dem Buch "Annäherungen – Drogen und Rausch" verarbeitete er seine Experimente mit LSD und sorgte für Mißmut bei einer bürgerlich-spießigen Klientel, der jedliche Vorstellung von Grenzerfahrung abstrus ist. "Das braune Pulver mumifiziert. Der ‘Schnee’ vereist. Auch das bringt lange Dauer mit sich oder wenigstens ihr Bewußtsein – und was ist Zeit denn anderes? Wenn das Gehirn einfriert und sich zu einem Eisblock wandelt, kann es ebensowenig Gedanken bilden, wie sich am Nordpol Wasser aus einem Eimer gießen oder aus einem Brunnen sprühen läßt. Das große Kraftwerk ruht. Dafür wächst das Bewußtsein geistiger Gegenwart und Macht. Das Gehirn denkt nicht mehr dieses oder jenes, es fühlt sich selbst in seiner unbeschränkten Fülle – die kleine Münze, die kursierte, ist in das Gewölbe zurückgeholt. Damit entfällt viel Täuschung, auch Einbeziehung in die Ansprüche der Welt."

Was wird bleiben von Ernst Jünger, einem der größten deutschen Schriftsteller dieses Jahrhunderts? Diese Frage wird sich auf dem Wilflinger Friedhof so mancher gestellt haben.

Nicolaus Sombart schrieb in einer Eloge zum 100. Geburtstag des Dichters anknüpfend an den großen Essay von Thomas Kielinger ("Der schlafende Logiker. Ernst Jünger und der europäische Surrealismus") von 1975, das dominierende Prinzip Jüngers sei der Dandyismus. "Der Dandyismus ist weltläufig, weltmännisch, mondän, snobistisch und hat in den Weltstädten Paris und London seine sozialtypische Ausprägung gefunden. Der Dandy steht an der Grenze der aristokratischen und bürgerlichen Lebenswelt, übernimmt die Werte der einen unter den gesellschaftlichen Bedingungen der anderen, um das Ideal eines extremen, artistischen, klassenlosen, weil über den Klassen stehenden, überlegenen Individuums zu verwirklichen …

Der Dandy verachtet die Masse und jede Mittelmäßigkeit, aber er ist fasziniert von der Macht. Seine Überlegenheit den Mächtigen gegenüber liegt darin, daß er sich mit ihnen nicht auf einen Machtkampf einläßt, sondern sie zu einem Machtspiel provoziert … Den Willen zur Macht hat er sublimiert zum Willen zum Stil. Stil als Mittel der narzistischen Selbstdarstellung, aber auch der Distinktion, der Perfektion, des Raffinements, der Provokation und der Exekution. Die Subjektivität des Individuums und seine gesellschaftlichen Ambitionen werden eingeschmolzen in die Rituale der Selbststilisierung … Das Ideal der Selbststilisierung, dessen höchster Ausdruck die Disziplinierung der Sprache ist, ist seine bleibende Botschaft an die, die sie vernehmen wollen. …"


 
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