© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Deutschland – die verspätete Nation
von Hrvoje Lorkovic

Zwei Bücher aus dem Bereich der Politologie haben in den letzten Jahren eine ungewöhnliche Resonanz genossen. Es sind Fukuyamas "Ende der Geschichte" und Huntingtons "Krieg der Zivilisationen". Beiden ist gemeinsam, daß sie an Überzeugungen des Laien appellieren. Zur Diskussion gelangten deshalb vor allem Thesen, die, auch wenn nicht richtig begriffen, zutiefst bewegten. Die feineren Details blieben dabei oft mißachtet.

Wolfgang Strauss gehört das Verdienst, die Frage gestellt zu haben,ob die Grenzziehung zwischen den Zivilisationen ("Kulturkreisen"), wie von Huntington vorgeschlagen, berechtigt ist. Strauss: "Er (Huntington) übersieht die Einmaligkeit des deutschen Kulturkreises, der keineswegs dem ‘Westen’ zugerechnet werden darf. An der Schnittstelle zwischen dem orthodox-slawischen Osten und einem atheistisch-liberalistischen Westen tendiert ‘deutsche Kultur’ mental und spirituell eher zum Osten hin."

Huntington aber geht es nicht in erster Linie um Ideologien oder Geopolitik, sondern um Kulturkreise und ihre Merkmale. Seine Begründung für die Eingliederung Deutschlands in den westlichen Kreis beruht auf der Tatsache, daß es die von ihm gewählten Merkmale der anderen westlichen Länder teilt: es ist christlich; die kirchliche und die säkulare Macht sind getrennt, es hat typisch westliche kulturelle Phänomene, wie die Renaissance, die Aufklärung usw. (Ereignisse, die zum Beispiel in Rußland, obwohl dieses christlich ist, ausgeblieben sind) miterlebt. Die Zurechnung Deutschlands zum Westen wird deshalb auch nur ausnahmsweise bestritten. Strauss hat jedoch mit seiner Aussage einen wichtigen Punkt berührt. Wenn dieser ins Auge gefaßt wird, ergeben sich unerwartet paradoxe Nachgedanken.

Zwar gibt es Ähnlichkeiten mit Rußland, doch gehört Deutschland, im Unterschied zu Rußland, zweifelsfrei zum Westen. Diese Zugehörigkeit resultiert nicht einfach aus der geographischen Lage Deutschlands, oder aus einem Prozeß der nachträglichen Verwestlichung Deutschlands. Deutschland hat vieles von der antiken mediterranen Kultur aufgenommen, es hat sich aber in seiner Geschichte auch immer wieder den universalistischen Kräften des Westens entziehen können. Trotz dieser Rückzüge in die eigene Identität oder, umgekehrt, aus Unmöglichkeit, seine Identität aufzugeben, spielte aber Deutschland eine wesentliche Rolle bei der Entstehung westlicher Eigenschaften, insbesondere jener die, auch Huntingtons Meinung nach, zu herausragenden Merkmalen des Westens geworden sind. Diese Merkmale sind der Individualismus und sein politischer Ausdruck, die liberale Demokratie.

Diese These mag zunächst überraschen. Wie kann ein Land, dem so oft nationale Verschlossenheit, Ablehnung westlicher Werte und autoritärer Konservatismus zugeschrieben werden – ein Land, das selbst noch kaum glauben kann, seine durch solche Merkmale gezeichnete Vergangenheit überwunden zu haben – eine Pionierrolle bei der Entfaltung zentraler westlicher Werte gespielt haben? Wo könnten die Wurzeln der als charakteristisch anerkannten westlichen Eigenschaften liegen?

Huntington teilt mit vielen Autoren den Konsens: Die Anfänge des westlichen Kulturkreises liegen im 8. und 9. Jahrhundert. In dem Europa jener Zeit kam es zu einer weiten Ausdehnung der fränkischen Macht über die einstigen Gebiete des Römischen Imperiums, zu einer Konsolidierung dieser Macht und zur Gründung von Strukturen, die später den Namen "Heiliges Römisches Reich" trugen. Was könnte dabei den Aufschwung von Individualismus und Liberalität ermöglicht haben? Und vor allem: Gibt es Merkmale der erwähnten Geschehnisse, die für solche Wirkungen in Betracht kommen? Man denkt sofort an den Zusammenhang von Individualität und Liberalität: beide hängen vom Grad der Freiheit ab. Eine Spaltung der obersten Macht schafft aber stets die Freiräume, die die Entstehung von Freiheit begünstigen.

Die Macht des Kaisers und des Papstes – und auf dieser Dualität fußt seit Karl dem Großen das fränkische und das Heilige Römische Reich deutscher Nation – beruhten auf sehr unterschiedlichen Fundamenten und auf Menschen unterschiedlicher Völker und Kulturen, die sich untereinander kaum verständigen konnten. Obwohl die eine Seite die Stärken der anderen benutzte, die sie selbst nicht besaß (die militärische auf der einen, die sakral-kulturelle auf der anderen), konnte es unter jenen Bedingungen keine lückenlose Machtstruktur geben.

Die innere Polarisierung im Frankenreich und im Heiligen Römischen Reich hatte ihre Konsequenzen auch für die Außenbeziehungen dieser Reiche. Da es eine ähnliche Polarisierung in Byzanz (wo der Kaiser auch die kirchliche Autorität in seinen Händen hielt) – und auch in dem bis zum 16. Jahrhundert unter byzantinischem Patriarchat stehenden Moskau – nicht gab, wurde bald eine Spannung zwischen den christlichen Würdenträgern im Westen und im Osten unvermeidlich.

Nur im Westen gelang es der Kirche, durch das von ihr dem Kaiser und den Königen verliehene weltliche Stellung eine politische Macht und Selbständigkeit zu erzielen. Die Folge war die Spaltung des bis dahin einheitlichen Christentums. Noch bedeutender war jedoch die unterschiedliche Gestaltung der Kultur. Die Vorwürfe der östlichen Kirche, die westliche hätte sich zu einem Instrument der "barbarischen" Herrscher entwickelt, erwiderte Rom mit einer Geste, die das volle Ausmaß der katholischen Macht über die säkularen Herrscher des Westens deutlicher denn je zum Vorschein brachte: mit der andauernden und erfolgreichen Agitation zugunsten der Befreiung des Grabes Christi. Die so in Gang gesetzten Kreuzzüge führten zu einer weitgehenden Emanzipation der Knechte, die an den Kriegen teilnahmen.

Es entstand so ein neues gesellschaftliches Strukturelement, das Rittertum und später das freie europäische Bürgertum. Durch seine steigende Fähigkeit, die unterschiedlichen Mächte gegeneinander auszuspielen, erwarb es einen Freiheitsstandard, wie der anderswo nicht zu finden war. Liberale Ansichten über die Gestaltung des politischen Lebens fanden so in den westeuropäischen Städten ihren natürlichen Nährboden. Die Unabhängigkeit des Denkens schlug sich auch in der Entwicklung der Wissenschaft und Technik nieder, womit ein imponierender Lebensstandard wie auch ein weiteres Moment der Freiheitsentwicklung hinzukamen.

Gegen solche Deutungen könnte eingewandt werden, gerade das deutsche Bürgertum sei in seiner Entwicklung gehemmt und die "Verspätung" (Helmuth Plessner) der deutschen nationalen Einigkeit dadurch verursacht worden. Es stimmt, daß die Deutschen unter allen westlichen Völkern an den Folgen der kirchlich-säkularen Spaltung am meisten gelitten hatten, daß der daraus resultierende 30jährige Krieg dem Volk schwere Rückschläge eintrug. Der Schlag war um so schwerwiegender, als die glücklicheren Nutznießer des Autoritätsvakuums dem romanisch-germanischen Kulturkonflikt mit all seinen psychischen Folgen ausweichen und sich, frei vom Verdacht des Barbarentums, der Kolonisierung großer Teile der Erde widmen konnten.

Es ist klar, daß diese Kette von ungünstigen Entwicklungen das deutsche Selbstvertrauen schwächte und eine innere Zerrissenheit erzeugte (von Huntington bei einigen anderen Völkern, zum Beispiel bei den Russen, nicht aber bei den Deutschen, richtig erkannt), die alle Übertreibungen zur Folge hatte, die man mit dem umstrittenen Terminus "die deutsche Neurose" nennt. Alle diese Umstände können jedoch nichts an der Evidenz ändern, daß die europäische Liberalität, wo immer sie zur Ausprägung gelangte, auf der Spaltung der kirchlichen und säkularen Mächte beruhte, die ihren Ursprung in den deutschen Ländern hatte. Nur ihren negativen Auswirkungen ist es zu verdanken, daß die Abhängigkeit der westlichen Liberalität von der europäischen Machtspaltung bisher nicht richtig zum Ausdruck gekommen ist.

Woher könnte dann aber die von Strauss betonte Verwandtschaft der Deutschen und des slawischen Ostens kommen? Die Antwort ist schon angedeutet worden: aus Entwicklungen, die beiden Völkern den Charakter "verspäteter Nationen" verliehen haben. Bei den Russen hat die Abwesenheit der kirchlich-säkularen Spaltung vor allem die bis heute nicht überwundene slawisch-tatarische Kulturdifferenz verdeckt, die bei der Übermacht des letzteren Elements keine bürgerliche Liberalität erlaubte. Dar-
in ist auch die Ursache der slawischen Demoralisierung zu suchen, der Hang zur nihilistischen Selbstvernichtung. Es war dieser, der im Westen so ansteckend wirkte, umso mehr, als er sich als Fortschritt und Gerechtigkeit maskieren konnte. Die letzten Ausprägungen des aus der Verzweiflung aufsteigenden Vernichtungswillens haben wir noch nicht erlebt, sie könnten aber noch bevorstehen.


 
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