© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Warten auf die Alternative
von Dieter Stein

Man sagt Helmut Kohl nach, er laufe zur Hochform auf, wenn ihn bereits alle als Verlierer hinstellten. Dies ist psychologisch durchaus nachvollziehbar. Bekanntlich gibt es bei Sportlern die "Angst vorm Sieg", wenn der Durchmarsch allzu leicht zu gelingen scheint. Denken wir auch an die hübsche Eisschnelläuferin Franziska Schenk, die, bereits als Goldmedaillen-Gewinnerin hochgejubelt, in Nagano kurz vor dem ersehnten Sieg stürzte. Mit anderen Worten: Solange das Fell des Bären nicht erlegt ist, sollte man es auch nicht verteilen.

Gerhard Schröder versucht nach dem Wahlsieg in Niedersachsen und seiner Nominierung als SPD-Kanzlerkandidat, den Ball extrem flach zu halten und den Eindruck zu verhindern, Kohl sei wirklich schon besiegt. Wenn Kohl im Herbst in die Knie geht, dann wird das auch mit Sicherheit in zweiter Linie vom ohnehin kaum Konturen zeigenden Wahlkampf des Oppositionsführers abhängen, der sich lediglich als schlankeres und etwas jüngeres Kohl-Double anbietet – schließlich wird bereits jetzt sozialdemokratische Politik betrieben. Es wird also am Verschleiß der Regierung liegen, die den politischen Herausforderungen nicht mehr gewachsen erscheint. Fraglich ist auch, ob die Wir-sind-das-kleinere-Übel-Nummer noch einmal ziehen wird.

Der Trümmerhaufen, vor dem Kohl steht, ist seit der letzten Bundestagswahl noch erheblich angewachsen. Das kaltschnäuzige Belügen der Bürger in der Frage der Bodenreform ist nur das aktuellste Beispiel einer Kette von politischen Zumutungen, mit denen die Regierungsparteien ihre ureigenste Wählerschaft im Kern getroffen haben. Die 2000 Menschen und ihre Angehörigen, die in Berlin am vergangenen Sonntag in Berlin von Gorbatschow bestätigt bekamen, daß die Bundesregierung gelogen hat, werden kaum durch eine Sympathiekampagne des Konrad-Adenauer-Hauses wieder an die Wahlurne zu locken sein.

Es bleibt stets die Frage, ob es eine Kraft gibt, die die Enttäuschung und die Empörung von Bürgern kanalisiert, die nicht links wählen wollen. Die Zahl derer wächst, die mangels wahrnehmbarer Alternativen bereit sind, zähneknirschend Schröder zu wählen, um wenigstens auf diesem Weg den mittlerweile vom kleineren zum größten Übel mutierten Kanzler loszuwerden.

Bei der Wahl in Sachsen-Anhalt werben alleine drei Parteien mit nationalen Parolen um den frustrierten Wähler. Dies kann wieder zur weiteren Zersplitterung der Kräfte führen. Die Dominanz einer seriösen Alternative, bei der sich die Masse der enttäuschten Wähler konzentriert, würden sich viele wünschen – sie ist aber derzeit noch nicht in Sicht.


 
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