© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/98 06. März 1998

 
 
Streit um die Bodenreform 1945/49: Gutsbesitzer Hans-Georg von der Marwitz über den seit 1989/90 bestehenden Unrechtszustand
"Der Gleichheitsgrundsatz wird aus finanziellen Kalkül verletzt"
von Gerhard Quast/Kai Guleikoff

Herr von der Marwitz, seit Wochen ist erneut ein Streit über die 1945/49 in der Sowjetischen Besatzungszone durchgeführte Bodenreform entbrannt. Ihre Familie wurde damals auch enteignet. Sie selbst haben einen Teil des Familienbesitzes zurückgekauft. Was hat Sie dazu motiviert, vom Allgäu in die Mark zu ziehen, und wie bewerten Sie diesen politischen Streit?

MARWITZ: Bevor ich in die entscheidende Diskussion Bodenreform einsteige, muß ich erst einmal unsere Situation hier vor Ort beschreiben. Ich bin hier mit meiner Familie nach Friedersdorf gekommen unter der Voraussetzung, mit den gegebenen Umständen anzufangen. Wir haben gesagt: Wir pachten und kaufen Land und fragen erst einmal nicht danach, was bis 1945 gewesen ist. Das wurde in unserer gesamten Familie sehr kontrovers diskutiert, aber bei der Mehrzahl der Familienangehörigen war es so, daß sie sagten, das ist erst einmal der richtige Ansatz. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, wir hätten nichts vergessen und nichts dazugelernt. Es sollte ein Neubeginn sein. Auch war die Angst in der Bevölkerung spürbar, daß, wenn wir hier 1990 gesagt hätten, das Land gehört uns, in einem Dorf, das bis 1945 zu 80 Prozent unter "Marwitzscher Hoheit" stand, einschließlich Patronat, es für uns ein unmöglicher Anfang gewesen wäre. Es wäre für meine Frau, die zur damaligen Zeit gerade schwanger war, und mich unvorstellbar gewesen, daß wir in einem Ort leben, in dem Vorbehalte und Ablehnung uns gegenüber spürbar sind. Insofern ist es notwendig gewesen, den Status quo anzuerkennen.

Wir haben in nunmehr bald acht Jahren diesen Betrieb wirklich mit unserer Hände Arbeit aufgebaut. Wir haben im Wohnwagen angefangen und haben dann, nicht zuletzt durch die Hilfe der Großfamilie, vor allem auch von seiten meiner Frau, die mit Brandenburg und Preußen überhaupt nichts gemein hatte, die Hemdsärmel hochgekrempelt, in die Hände gespuckt und losgelegt. Im Zuge dieser Jahre hat mich in vieler Hinsicht die Geschichte eingeholt, zum Teil auch überholt, und plötzlich werde ich mit Dingen konfrontiert, die bis 1989 doch fast vergessen, allenfalls vage im Hinterkopf vorhanden waren.

Daß ich aus einer alten märkischen Familie stamme, das wurde bei uns zu Haus so gut wie nie erwähnt. In meiner Familie ist der preußische Geist, über den man heute aufgrund der preußischen Renaissance immer wieder spricht und nachdenkt, nicht wachgehalten worden. Ich fühlte mich bis 1989 als waschechter Allgäuer einschließlich des dazugehörigen Dialekts.

Bis Sie von der Geschichte einholt wurden?

MARWITZ: Es ist so, daß ich nicht zuletzt auch aufgrund der jahrelang geführten Diskussion über die vor 1949 erfolgte Bodenreform sehr viele Kontakte zu unterschiedlichsten Organisationen und Menschen bekommen habe und sich einiges in meinen Ansichten von damals geändert hat, nicht in revanchistischer Hinsicht, sondern dahingehend, daß mit der Bodenreform wirkliches Unrecht geschehen ist, an Menschen, die samt und sonders als Kriegsverbrecher bezeichnet und aufgrund dessen enteignet wurden, Familien, die alles andere als mit dem braunen Geist in Einklang standen.

"Im Bauernverband haben ehemalige Kader das Sagen"

Wenn man sich intensiv mit dieser Geschichte der Enteignungen auseinandersetzt, dann kommt man zu dem Urteil, daß dieses Unrecht mit zweierlei Maß gemessen wird. Jahrzehnte wurde am Tag der Deutschen Einheit parteiübergreifend das Unrecht der Vertreibung und die Enteignung durch die Sowjets und durch die DDR gebrandmarkt. Wie kommt man jetzt dazu, zwischen der sowjetischen und der DDR-Enteignung zu unterscheiden? Unbegreiflich, daß ausgerechnet dies von den CDU-Verhandlungsführern in den Zwei-Plus-Vier-Gesprächen akzeptiert wurde. So begreift heute nicht einmal die deutsche Bevölkerung, geschweige denn das Ausland, warum ein Teil der Enteigneten seinen Besitz anstandslos zurückerhält und ein anderer mit vagen Abfindungszusagen und einem Bruchteil des tatsächlichen Wertes abgefunden werden soll.

Aus meiner Sicht wird hier der Gleichheitsgrundsatz des Paragraphen 3 des Grundgesetzes aus politischem Willen und aus wirtschaftlichem Kalkül massiv verletzt und auch in Kauf genommen. Wie kommt der Staat dazu, unrechtmäßig enteignetes Land zu annektieren und zu verkaufen? Für mich bedeutet dies strafbare Hehlerei. Wenn man darüber nachdenkt, und wenn man das Buch "329 Tage. Innenansichten der Einigung" von Horst Teltschik liest, dann wird einem manches deutlich, wie man 1989/90 letztlich gedacht hat. Es tut sich der Gedanke auf, daß man auf dem Rücken einer Minderheit, wohlwissend, daß diese Minderheit keine politische Lobby hat, Unrecht in Kauf nahm.

Zählen Sie sich auch zu dieser Minderheit?

MARWITZ: Nein. Insofern kann ich in vieler Hinsicht wertfrei darüber urteilen. Ich wäre niemals – sagen wir mal: unter der normalen Erbfolge – Besitzer oder Erbe von Friedersdorf geworden.

Wie erklären Sie sich, daß die Diskussion um die Enteignungen nicht zur Ruhe kommt?

MARWITZ: Daß diese Diskussion jetzt wieder aufbricht, ist verständlich. Solange Unrecht in unserer Gesellschaft nicht als Unrecht gebrandmarkt wird, solange – das ist das große Plus der Demokratie – wird dieses Unrecht rumoren. Aber daß diese Diskussion jetzt aufflammt, ist nichts anderes als ein politisches Kalkül, ein wahlstrategischer Schachzug von verschiedenen Seiten – auf dem Rücken einer Minderheit. Denn wer würde von den Alteigentümern tatsächlich hier rüberkommen und in Größenordnungen Flächen kaufen? Es sind doch sowieso nur 6000 Bodenpunkte, um die es hier geht. Rechnen Sie das doch einmal auf Hektar um. Bei 50 Bodenpunkten sind das gerade mal 120 Hektar.

Zu wenig, um Landwirtschaft betreiben zu können?

MARWITZ: Was wollen sie als Landwirt mit 120 Hektar anfangen? Davon kann auch ein Alteigentümer kaum existieren. Wer heute Landwirtschaft betreiben will, der braucht hierzulande, wo die Ertragsfähigkeit sehr niedrig ist, weit mehr landwirtschaftliche Nutzfläche. Ich denke, es ist fadenscheinig, diese Diskussion zu führen, denn es wären viel zu wenige bereit, tatsächlich in Größenordnungen zu investieren. Die meisten sagen sich: Wenn wir die volkseigenen Flächen unter Auflagen zurückbekommen hätten, dann wäre selbstverständlich ein gewisser familiärer Druck entstanden, und dann hätte man ernsthaft darüber nachgedacht. Aber nur um jetzt hier auf irgendwelchen alten Ländereien ein Prestige- oder ein Traditionsbewußtsein ausleben zu können, das entbehrt jeder wirtschaftlichen Basis.

Von den Interessenverbänden der Enteigneten abgesehen, wer hat sonst noch ein Interesse daran, die Diskussion immer wieder neu zu entfachen?

MARWITZ: Hoffentlich alle kritischen Bürger, denen die Wahrheit und unsere Rechtsordnung heilig ist. Doch auch die derzeitige Landwirtschaftslobby in den neuen Bundesländern sah sich veranlaßt, gegen die Interessen der Alteigentümer zu opponieren. Schauen Sie doch mal in die Bauernverbände rein, wer da heute das Sagen hat: nämlich die ehemaligen LPG-Vorsitzenden und die ehemaligen Kader, die sich in den Nachfolgebetrieben wieder etabliert haben. Sie werden kaum private Landwirte finden. Ich habe sechs Jahre in diesem Bauernverband zu arbeiten versucht, weil ich gesagt habe, es ist wichtig, daß bäuerliche Strukturen auch in der Mark Brandenburg wachsen. Aber von bäuerlichen Strukturen habe ich nichts gefunden, auch großbäuerliche oder Gutsstrukturen im Familienbetrieb sind im märkischen Bauernverband kaum vorhanden. Die Diskussion über das Landwirtschaftsanpassungsgesetz (LAG) im letzten Jahr, wo ein Aufschrei durch die LPG-Nachfolgebetriebe ging, war für mich letztlich der entscheidende Anstoß zu sagen, das ist nicht mein Verband, darin habe ich nichts zu suchen. Ein Verband, in dem Mitglieder zur Zeit der Wende Recht mit Füßen getreten haben und jetzt das Deckmäntelchen des Schweigens darüber legen möchten und letztlich nur ihre eigenen profitablen Interessen verfolgen, ist kein Verband, der die gesamtlandwirtschaftlichen Interessen vertritt.

Soll das heißen, daß im Bauernverband die Seilschaften aus der Vor-Wende-Zeit weiter funktionieren?

MARWITZ: Ich wehre mich gegen das Wort Seilschaften. Wissen Sie, ich komme aus Bayern, da ist seit Jahrzehnten die CSU am Ruder. Wenn man von Seilschaften spricht, dann dürfen wir als Westdeutsche den Mund nicht zu weit aufmachen. Es sind Verbindungen, die gewachsen sind. Schon ein Sprichwort sagt, Beziehungen schaden nur dem, der sie nicht hat. Natürlich sind hier Verbindungen aufgebaut worden in den letzten 44 Jahren, und natürlich sitzen Entscheidungsträger wieder an Positionen, in denen sie auch zum Teil vorher gesessen haben. Und daß da eine einseitige Politik betrieben wird, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Wo Beziehungsgeflechte gewachsen sind, da entsteht einseitige Politik und einseitige Interessenvertretung.

Bei der Diskussion könnte der Eindruck entstehen, es handele sich um einen Ost-West-Konflikt. Die CDU in den neuen Bundesländern wehrt sich gegen die Infragestellung der Bodenreform durch die West-CDU und unterscheidet sich in dieser Frage in nichts von der SPD oder der PDS. Wo verlaufen Ihrer Meinung nach die Konfliktlinien?

MARWITZ: Erst einmal finde ich es unglücklich, daß diese Diskussion zu diesem Zeitpunkt geführt wird, denn sie wird, wie Sie feststellen können, nur politisch, machtkalkulatorisch ausgenutzt. In Sachen Kauf von Betrieben für Alteigentümer, Neu- und Wiedereinrichtern, sowie von umgewandelten Gesellschaften hat man in den letzten Jahren einen, wenn auch sehr fragwürdigen Konsens gefunden. Daß das keine Wiedergutmachung sein kann, wenn man angestammtes Eigentum kaufen muß, versteht sich wohl von selbst. Das Unrecht steht nach wie vor im Raum. Ich glaube nicht, daß es allein ein Ost-West-Konflikt ist, denn auch in der West-CDU wird über das Thema Bodenreform kontrovers diskutiert. Deshalb haben sich Politiker wie Schmidt-Jortzig oder Rupert Scholz hingesetzt und noch einmal über einzelne Punkte dieses Kompromisses nachgedacht.

Wer stößt die Diskussion von politischer Seite an und wer hat den Vorteil?

MARWITZ: Im Moment versucht die CDU in Brandenburg, mit dem Thema Land gut zu machen. Deswegen zieht die CDU hier auch mit am gleichen Strang wie die SPD und die PDS. Wenn die CDU auf die Bonner Richtung einschwenken würde, wäre sie von allen Flanken angreifbar. Das ist ihre große Angst in der momentanen Situation. Sie denkt, wenn sie jetzt einer kleinen Minderheit von Alteigentümern nachgibt, dann könnte sie vollkommen abgeschrieben werden. Das ist der Grund, warum die CDU hier und in Mecklenburg-Vorpommern sich voll gegen die Linie von Scholz und Schmidt-Jortzig stellt.

Ist die Frage der 45/49er-Bodenreform politisch wirklich so entscheidend?

MARWITZ: Meines Erachtens wird das Interesse der Bevölkerung an dieser Thematik überschätzt. Das Gros der Bevölkerung sagt sich doch von vornherein, diese Diskussion ist für sie belanglos. Hier im Dorf interessiert das niemanden, weil jeder sagt, unsere Flächen sind erst einmal gesichert, es geht um die volkseigenen Flächen. Ob nun das ehemalige Volkseigentum von diesem oder jenem käuflich erworben werden kann, das interessiert doch nicht. Das ist in schätzungsweise 80 Prozent der Dörfer so. In manchen Dörfern gibt es hingegen eine sehr starke Genossenschaft, und da wird politisch mobilisiert. Dort wird im Kollektiv versucht, diesen Gedanken, wir haben das aufgebaut, das können sie uns jetzt nicht einfach wegnehmen, in die Köpfe hinein zu bekommen.

Aber das Thema haben doch immer wieder die Interessenverbände der Alteigentümer aufgegriffen und – insbesondere mit Anzeigen – an die Öffentlichkeit gebracht?

MARWITZ: Selbstverständlich gibt es zahlreiche Verbände, die sagen, das ist Unrecht und muß beseitigt werden. Das ist legitim und richtig so.

Aber Sie haben sich in der Praxis doch ganz anders verhalten.

MARWITZ: Meine Position ist hier vor Ort eine eigene, und die hat sich aufgrund der Erfahrung hier mit den Menschen und den Betrieben und dem Miteinander vor Ort gebildet.

Das ist aber eine Position, die von den meisten Alteigentümern grundsätzlich abgelehnt wurde und wird.

MARWITZ: Sicher. Ich bin gerade mit meinem Anfang hier sehr stark ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, weil ich erst einmal den Status quo anerkannt habe. Bei vielen habe ich da etwas ausgelöst, was sie nicht für gut heißen. Sie haben gesagt: Wie können Sie so etwas öffentlich von sich geben! Vielleicht sollte man hierbei bedenken, daß ich einer jüngeren Generation angehöre, die weniger emotional und mehr pragmatisch an dieses Thema herangeht.

Aber Verständnis haben Sie trotzdem für diejenigen, die sagen: Das ist mein Eigentum gewesen, und ich habe ein Recht darauf?

MARWITZ: Für diese Position habe ich natürlich volles Verständnis. Ich habe die Bodenreform nie anerkannt, das kann ich nicht, das steht mir nicht zu. Ich habe mit meinem Schritt nur deutlich machen wollen, daß die Restitution für mich nicht die erste Priorität hat. Ich habe keinen Nutzen von der Rückgängigmachung der Bodenreform. Aus meinem Rechtsverständnis und aus meinem politischen Verständnis ist diese Regelung für die 45/49er Enteignungen Unrecht. Und das will ich noch einmal dick unterstreichen. Da ist einfach nicht gerecht gehandelt worden.

Nur in bezug auf das unbesiedelte Land?

MARWITZ: Ich persönlich bin der Ansicht, was in Siedlerhand ist, hat Rechtsbestand. Das habe ich vom ersten Tag an laut von mir gegeben. Und das war am Anfang bei vielen Verbänden auch umstritten. Alles was neu aufgesiedelt wurde und heute in privater Hand ist, steht nicht zur Diskussion. Was Diskussionsgrundlage darstellt, ist das volkseigene Vermögen, das sich der Staat zu Unrecht angeeignet hat. Nur dieser Grund und Boden steht zur Diskussion und zwar solange, bis ein gerechter Entschädigungsschlüssel gefunden worden ist.

Welche gesamtgesellschaftliche Bedeutung kommt der Behandlung der Enteigneten im Einigungsprozeß zu?

MARWITZ: Wir brauchen nur an die Mauergrundstücke denken. Das ist ja hanebüchen, was sich da abgespielt hat. Der Rechtsstaat als solcher ist erstmalig bei mir ins Wanken geraten. Ich habe zum erstenmal das Gefühl, daß ich – in dieser Beziehung – nicht mehr in einem Rechtstaat lebe. Ich will nicht von "gerecht" sprechen. Gerechtigkeit gibt’s wohl nirgendwo auf der Welt. Aber zumindest der Versuch einer allgemeingültigen rechtlichen Ebene. Daß die nicht geschaffen worden ist, belastet mich.

"Wir haben die Chance des Einheitstaumels versäumt"

Wie würden Sie heute handeln oder wie hätten Sie es damals gemacht?

MARWITZ: Hätte, wenn und aber. Das ist immer so eine Sache. Ich hätte erst einmal gesagt, alles was Volkseigentum ist, sollen die Besitzer zurückerhalten – verbunden mit entsprechenden Verpflichtungen: Investitionspflicht, erste Wohnsitzpflicht, Unverkäuflichkeitspflicht; meinetwegen auf 30 Jahre festgelegt. Dann hätte sich sehr schnell die Spreu vom Weizen getrennt. Dann hätte man wirklich sehen können, wer bereit ist, auf sein gemütliches Umfeld im Westen zu verzichten und tatsächlich im Osten neu zu beginnen. Das wäre – sagen wir einmal – die erste Selektion gewesen.

Natürlich wären die Betriebe, die hier vor Ort mit drei, vier, fünf, sechs oder sieben Tausend Hektar wirtschaften, empfindlich getroffen worden, sofern die Altbesitzer gekommen wären und gesagt hätten: Jetzt fangen wir hier neu an. Aber viele, das garantiere ich Ihnen, hätten sich mit den LPG-Nachfolgebetriebe in Verbindung gesetzt und gefragt, ob diese die landwirtschaftliche Nutzfläche weiter bewirtschaften wollen. Ich kann Ihnen Beispiele nennen, wo das genau so läuft, wo Land zurückgekauft und an die LPG-Nachfolger verpachtet worden ist. Davon ganz abgesehen, haben wir uns deutschlandweit ein finanzielles Eigentor ohne Ende geschossen. Wir sind ein armer Staat mit reichen Bürgern. Hätte man die Alteigentümer in allen Bereichen in die Pflicht genommen, nach Paragraph 14 des Grundgesetzes, was glauben Sie, was an blühenden Landschaften entstanden wäre. Sie brauchen nur in Gegenden zu gehen, wo alte Familien zurückgekommen sind, aus welchen Beweggründen auch immer.

Aber es gab doch auch diese Hemmschwelle der Bevölkerung gegen die Alteigentümer. Wie haben Sie diese überwunden?

MARWITZ: Ich bin im Gemeinderat, im Kirchenvorstand und verschiedenen kirchlichen Gremien. Daß es bei uns hier in Friedersdorf geklappt hat, liegt zum einen daran, daß wir den unteren Weg gegangen sind. Wir haben uns nicht in den Vordergrund gestellt, sondern bei den verschiedenen Projekten vielmehr das Miteinander betont. Zum anderen haben alle von Anfang an bis heute gesehen, daß wir hart arbeiten müssen, daß ich in den ersten Jahren morgens um vier mit den Gummistiefeln zum Melken gefahren bin und abends wieder zurück. Das hat manchem die Klischeevorstellung zerschlagen. Ich bin durch und durch Landwirt und habe in diesen letzten Jahren bewiesen, daß ich das schwer zu bewirtschaftende Oderbruch auch zu meistern imstande bin. Und ich denke, jeder hat gesehen: Da wird nicht nur geredet, sondern gehandelt.

Noch einmal zurück zur Frage der Enteignungen. Welcher Weg kann jetzt, im achten Jahr der Einheit, beschritten werden?

MARWITZ: Wir haben die Chance des Einheitstaumels versäumt. Heute ist die politische Situation verfahren. Ich denke, man sollte jetzt Rückgrat zeigen und den von Scholz und Schmidt-Jortzig eingeschlagenen Weg weiter beschreiten, also den Alteigentümern wenigstens Verfahrenserleichterungen bei den Vorkaufsbedingungen zu gewähren und denjenigen, die nach wie vor bereit sind, in die neuen Bundesländer zu wechseln und Betriebe oder auch Landwirtschaften aufzubauen, zumindest die Möglichkeit dazu schaffen. Es ist nach wie vor nicht gesagt, wie die Entschädigung zu handhaben ist. Ich könnte mir ohne weiteres vorstellen, daß diese Entschädigung auch auf Grundlage von Land durchgeführt werden kann.

Bis heute wird die Frage diskutiert, ob die Sowjetunion die Beibehaltung der Bodenreform als Bedingung für die Wiedervereinigung gestellt habe. Immer wieder wurden Zweifel laut.

MARWITZ: Die Diskussion, ob diese Frage Bedingung für die Wiedervereinigung war, ist im Prinzip beantwortet. Durch das offene Wort des ehemaligen Sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow am vergangenen Sonntag ist bewiesen, daß das Gerede über die angebliche Bedingung für die Wiedervereinigung eine politische Lüge war. Jetzt müssen unsere Politiker den Mut haben, das auch offen zu bekennen, so schmerzlich das dann sein mag.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen