© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   12/98 13. März 1998

 
 
Zerstörte Illusionen
von Klaus Rainer Röhl

Die Niederschrift des Buches "Fünf Finger sind keine Faust" endete im Mai 1974. Sie ist eine Momentaufnahme, die viele nüchterne und bittere Erkenntnisse abbildet, aber auch viele bleibende Illusionen und Hoffnungen. Im Jahr 1973 hatte ich, wiederum zusammen mit Peter Rühmkorf, eine neue Zeitschrift unter dem Namen dasda / avanti gegründet. Es muß zur Ehre der freien Schriftsteller, die sich in den vielen Jahren um konkret und seinen Herausgeber Klaus Rainer Röhl geschart hatten, gesagt werden, daß sie alle ihrem Herausgeber (meist auch ihrem Entdecker) die Treue hielten. So einfach sind deutsche Schriftsteller nicht zu manipulieren. Doch die neue Zeitschrift war klein geworden, mußte wieder ganz von vorne anfangen. Statt der ehedem über 40 Mitarbeiter gab es nur drei Redakteure, mich, meinen Bruder Wolfgang Röhl und einen dritten, der beim großen Putsch als einziger treu zum Herausgeber gehalten hatte. Er hieß Bernd Michels. Und er war inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, wahrscheinlich sogar ein Topagent von Markus Wolf, dazu ausersehen, der Nachfolger von Günther Guilleaume zu werden, der noch nicht einmal enttarnt war (laut Welt am Sonntag vom 2. 5. 93).

Es begann das, was man in der Stasi-Sprache Zersetzung nennt. Ich verlor auf rätselhafte Weise alle meine Freunde, mein Haus, meinen Beruf und meine letzten Geldmittel. So verlor ich am Ende auch die letzten getreuen Mitarbeiter, Schriftsteller und Journalisten, einen nach dem anderen bis auf den letzten Mann. Alle. Sie hatten die Welt nicht verändert, aber sich selbst.

Der Mann, für den ich mich in der DDR am meisten eingesetzt hatte, Wolf Biermann, wurde von seinem neuen Manager Dehm, einem Stasi-Mitarbeiter, so abgeschirmt und desinformiert, daß er mir sogar ein Gespräch verweigerte und gleich zum orthodoxen konkret überging – ebensogut hätte er gleich in der DDR bleiben können. Die Zeitung dasda / avanti wurde liquidiert. Systematisch. Dr. Hübotter brach einen Schadensersatzprozeß gegen uns mit einer Forderung von über 600.000 Mark von einem Tag zum anderen ab. Er brauche diesen Prozeß nicht mehr, sagte sein Anwalt zu unserem Rechtsvertreter, denn dasda / avanti sei tot. Er hatte recht. dasda / avanti mußte sein Erscheinen einstellen. Das kommunistische System hat einen Fehler korrigiert, dachten wir.

Nach der Zerstörung meines (ganz unpathetisch gesagt) Lebenswerks, dem Verlust beider Zeitschriften, meines Hauses, aller Rücklagen, der nie mehr zu tilgenden Verschuldung als Folge der immensen finanziellen Verluste der Firma, der Auflösung meiner Familie, der Entführung meiner Kinder durch Mitglieder der RAF, dem Leben unter Polizeischutz, dem Fememord oder von den Genossen erzwungenen Selbstmord der Mutter meiner Kinder hatte ich sehr viel Zeit, über die Folgen der von mir selber ausgelösten oder geduldeten Politik nachzudenken.

Als Herausgeber von konkret war ich zumindest mitbeteiligt an der besonders von dieser Zeitschrift ab 1967 vorangetriebenen "Gewaltdiskussion", die von der Bejahung der Gewalt gegen Sachen schließlich zur Bejahung des politischen Mordes und der Gründung der sogenannten Roten-Armee-Fraktion (RAF) führte. Eine ähnliche Rolle spielte die Zeitschrift kurze Zeit durch eine unseriöse und verantwortungslose Verharmlosung des Drogenkonsums als Mittel einer angeblichen Befreiung des Individuums. Diese Tendenzen in der Redaktion wurden zwar nicht von mir getragen, aber auch im Anfang nicht verhindert – was nicht nur aus heutiger Sicht geboten scheint.

Als Herausgeber von konkret (obwohl bereits stark unter dem Druck und dem Versuch massiver Einflußnahme durch sogenannte "Redaktionskollektive") unternahm ich den Versuch, gegen den Drogenkonsum eine große Kampagne zu führen, gipfelnd in dem ersten bundesweiten Anti-Drogen-Kongreß "Sucht ist Flucht" sowie der Kampagne "Genossen, wir haben Fehler gemacht". Während die Anti-Drogen-Kampagne tatsächlich zu einer Ächtung des Drogenkonsums unter allen Linken führte, die sogar bis in die militanten K-Gruppen ausstrahlte, war der einmal eingeschlagene Weg der Verharmlosung von Einstiegsdrogen (Haschisch und LSD) in der Gesamtgesellschaft nicht mehr aufzuhalten, wobei sich von den linksliberalen Medien besonders die Zeit und deren Chefredakteur, Müller-Marein, sowie der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein besonders hervortaten. Anlaß, über die Rolle der sogenannten linksliberalen Presse nachzudenken.

Als Herausgeber von konkret führte ich, buchstäblich vom ersten Augenblick der Baader-Befreiung an (Mai 1970), einen erbitterten Kampf gegen den Terrorismus und versuchte, nicht nur die Mitglieder der RAF und meine Frau zur Umkehr zu bewegen, sondern vor allem auch die Sympathisanten zu demotivieren. Ein besonders unpopuläres Unterfangen, reichten doch die Sympathisantenkreise vom Spiegel -Herausgeber über führende Rundfunkredakteure bis zu Heinrich Böll. Im Gegensatz zu der Drogeninitiative war der Anti-Terror-Kampagne kein Erfolg beschieden, sondern sie führte rasch zu einer Spaltung in der Leserschaft und einer Isolierung des Herausgebers, der mit Recht der Urheberschaft der Anti-Terror-Artikel und mangelnder "Solidarität" mit den Gefangenen der RAF beschuldigt wurde. Gelegenheit, über den verhängnisvollen Weg von der Gewalt gegen Sachen bis zum willkürlich motivierten Mord nachzudenken und zu lernen, was "linke Solidarität" ist = ein Korpsgeist, der ähnlich wie bei der Mafia auch Mörder einschließt.

Wegen Differenzen mit einer Gruppe redaktionsfremder Mitarbeiter, die sich in erster Linie an der sogenannten Gewaltdiskussion entzündet hatten, wurde von meiner nunmehr geschiedenen Frau, Ulrike Meinhof, ein gewaltsamer Sturm auf die Redaktion und schließlich mein Wohnhaus unternommen, wobei Mobiliar zerstört und das Haus demonstrativ verwüstet und besudelt wurde. Es war dies die erste Aktion einer Gewalt gegen Sachen, die nicht vor der Privatsphäre des Angegriffenen haltmachte und insofern eine neue Qualität des Terrors. Die Teilnehmer wurden von der Berliner Spiegel -Redaktion bezahlt, wie später festgestellt wurde. Eine gute Gelegenheit, über Gewalt gegen Sachen und nochmals über die Rolle der linksliberalen Presse nachzudenken.

Als Initiator des Artikels "Gib auf, Ulrike!" wurde ich von einer an die 50 Personen zählenden Gruppe von autonomen Linken abermals nachts in meinem Haus überfallen, die eine Art Volksgericht über mich halten und mich zwingen wollten, einen Artikel öffentlich zurückzuziehen und einen Gegenartikel zu schreiben. Eine vorzügliche Gelegenheit, über die Gewalt gegen Personen und autonome Vorstellungen von Pressefreiheit nachzudenken.

Als Vater von siebenjährigen Zwillingstöchtern aus der Ehe mit Ulrike Meinhof mußte ich miterleben, wie diese zum Teil in Wohngemeinschaften erzogen wurden und wie auch an ihnen unter dem Vorwand der sogenannten antiautoritären Kindererziehung dilettantische und unverantwortliche Menschenexperimente vorgenommen wurden, deren Spätschäden viele Kinder mit großer Anstrengung überwunden haben. Eine Gelegenheit, über das "Herumfummeln am Sozialisationsprozeß" nachzudenken.

Während meine ehemalige Frau nach der Baader-Befreiung in den Untergrund abtauchte, wurden die Kinder über die grüne Grenze in ein Obdachlosenlager im unzugänglichen Teil Siziliens verschleppt und unter Aufsicht von "Drogenkonsumenten" von der Außenwelt isoliert. Von dort sollten sie unter arabischen Namen, wahrscheinlich auch getrennt voneinander (!) in einem Waisenlager radikaler Palästinenser aufwachsen. Eine gute Gelegenheit, über die Menschen- und Kinderfreundlichkeit linker Befreiungsbewegungen nachzudenken.

Über ein Jahr lang wurden die achtjährigen Zwillinge nach ihrer Befreiung von Beamten der Sicherungsgruppe Bonn und der Polizei rund um die Uhr bewacht, weil die auch angedrohte Gefahr einer abermaligen Entführung durch die RAF bestand. Eine ausgezeichnete Gelegenheit, über den antihumanen Charakter linker Terroristen und das Gewaltprivileg des Staates nachzudenken.

Im Sommer 1987, zwei Jahre vor der Wende, habe ich angesichts der maßlosen und ungerechtfertigten Kampagne gegen Ernst Nolte beim sogenannten "Historikerstreit" an diesen geschrieben und ihm den Vorschlag gemacht, solidarisch, gewissermaßen demonstrativ bei ihm zu promovieren. Die Wahl des Doktorvaters war also keineswegs ein Zufall.

Nach jahrelangen Archiv- und Feldstudien über die von der Geschichtsschreibung wenig beachtete Zusammenarbeit der Kommunisten und der Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik legte ich dann meine Dissertation "Nähe zum Gegner. Die Zusammenarbeit von Kommunisten und Nationalsozialisten beim Berliner BVG-Streik von 1932" an der Freien Universität Berlin vor und wurde im Mai 1993 zum Doktor der Philosophie promoviert.

Gleich nach Abschluß der Promotion machte ich mich an die Arbeit, über die tiefgreifenden, zum Teil verheerenden Folgen der kommunistischen und linksutopischen Aktivitäten, an denen ich als Herausgeber und Kommentator beteiligt gewesen war, durch eine Serie von Veröffentlichungen aufzuklären: Artikel in FAZ, Welt und Rheinischer Merkur, die Bücher "Linke Lebenslügen" (1994), "Deutsches Phrasenlexikon" (1995) und "Deutscher Narrenspiegel" (1996), viele Fernsehauftritte und zahlreiche Vorträge und Lesungen, die mich Woche für Woche und Monat für Monat durch ganz Deutschland führen.

Von Buxtehude bis nach Regensburg und von Cottbus bis nach Köln bezeugen Hörer aller Parteirichtungen und Altersstufen, wie notwendig die konkrete Aufklärung durch einen unmittelbar Beteiligten über den Ungeist der kommunistischen und terrroristischen Utopien ihnen erscheint. Die Lesungen und Vorträge folgten meinen Möglichkeiten, als Zeitzeuge die unbekannten Mechanismen einer 50jährigen Deformationskampagne offenlegen zu können, und meinem Bedürfnis, einen Teil meiner Schuld abzutragen, die darin bestand, als kleines Rädchen im Mechanismus der großen Zersetzung mitgewirkt zu haben. Ursprünglich als fünfte Kolonne im Rücken des kapitalistischen Feindes gedacht, um dem von Anbeginn maroden kommunistischen System ein wenig Luft zu verschaffen, hat sich das Wahnsystem der "antifaschistischen" Desinformation verselbständigt und droht auch heute noch – selbst nach dem Untergang der realsozialistischen Utopien – unsere Gesellschaft zu lähmen und zu zerstören.

Die Aufklärung, in dieser radikalen Form von vielen durchaus bedenklich gewordenen Altlinken nicht geleistet, erfolgt allerdings gegen den erklärten Willen und trotz des flächendeckenden Boykotts der Betroffenen: der durch den Langen Marsch durch die Institutionen am Vorabend der Jahrtausendwende an fast alle Schalthebel der Gesellschaft, der Parteien, des Staatsapparats und sogar in das oberste deutsche Gericht gelangten 68er Genossen.

Sehen wir weiter hilflos zu, wie die 68er Ideologen in den Massenmedien, den Parteien, im Staatsapparat und in der Justiz den antitotalitären Konsens durch den "antifaschistischen Konsens" ersetzen, so siegt Stalin 1998 posthum in Bonn. Der antitotalitäre Konsens, der eine gute Tradition aller demokratischen Parteien in der Weimarer Republik und die raison d’être der jungen Bundesrepublik war, verbindet die Demokraten aller Parteien gegen die monokausalen Systeme von Nationalsozialismus und Kommunismus. Der von Stalin 1926 begründete und seit dem propagierte "antifaschistische Konsens" bedeutet 1998 die Zusammenarbeit mit Gysi und seinen altkommunistischen Konsorten für eine andere Republik – dem Namen nach gegen einen nicht sichtbaren und nicht genau definierten Faschismus gerichtet, ist er in Wahrheit egalitärer Utopismus gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit der Marktwirtschaft, ein unverdrossener neuer Versuch, das verlorene Spiel noch einmal zu beginnen und diesmal zu gewinnen.

Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu erkennen, daß mein Schicksal, auch und gerade das meiner Familie, die Gewalt gegen Menschen, die Drogenverharmlosung und der Terrorismus nicht nur mein persönliches Schicksal waren, sondern daß das Ganze ein System hatte. Ein System, von dem ich ein Teilchen gewesen war und das vom gepflegten Salongeplauder der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie über den egalitären Sozialismus aller Schattierungen bis zum mörderischen Terrorismus der RAF reichte. So führte für mich ein langer Weg von 40 Jahren zu der schließlichen Erkenntnis, daß dieses System, das System des Sozialismus/Kommunismus, keine Fehler hat, die man eines Tages korrigieren könnte. Dieses System hatte keine Fehler. Es war der Fehler.


 
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