© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   12/98 13. März 1998

 
 
Zweiter Weltkrieg: Der Luftangriff auf Dresden war keine Reaktion auf die Bombardierung Coventrys
Das Herz der britischen Rüstungsindustrie
von Hans B. v. Sothen

Herr Dr. Boog, der Militärexperte der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Adelbert Weinstein, hat kürzlich in der genannten Zeitung behauptet, der deutsche Luftangriff auf das Zentrum der britischen Rüstungsindustrie, Coventry, sei "das Modell für die Vernichtung von Dresden" gewesen. Die Methoden, die die Deutschen bei ihrem Nachtangriff auf Coventry am 14. November 1940 angewandt hätten, hätten die Briten ihrerseits am 13. Februar 1945 in Dresden "in die Tat umgesetzt". Weinstein bezieht sich auf den deutschen Militärhistoriker Jörg Friedrich und sein Buch "Das Gesetz des Krieges" (München 1995). Darin behauptet Friedrich, daß Coventry der erste Ansatz einer Flächenbombardierung gewesen sei, die Briten hätten das deutsche Vorgehen lediglich kopiert. Was ist davon zu halten?

BOOG: Den deutschen Luftangriff auf Coventry als "Flächenangriff" zu bezeichnen und mit dem englischen auf Dresden gleichzusetzen, ist sachlich falsch, weil nicht nur die Wirkungen sehr unterschiedlich waren, sondern vor allem die jeweiligen Absichten: Hier Zerstörung der Motoren- und Rüstungsfabriken, dort Terror, um die deutsche Ostfront in jeder Richtung zu blockieren und weil angesichts des noch zu besiegenden Japan der Krieg in Europa mit allen Mitteln zu Ende gebracht werden sollte. Weinsteins Vorlage, das Buch von Jörg Friedrich, bezieht sich, wenn auch einseitig und selektiv, auf den englischen Historiker Norman Longmate ("Air Raid – The Bombing of Coventry 1940", London 1976 – d. Red.). Der schrieb aber ausdrücklich, daß die Deutschen sehr genau auf die Fabriken gezielt und ebenso genau getroffen haben. Andererseits wurde der Umstand, daß die Kathedrale von Coventry getroffen wurde – bei der Gemengelage von Wohnbezirken und Fabriken war das kaum vermeidlich –, zur Verbreitung der von Longmate als "unwahr" bezeichneten Kriegspropagandalüge vom deutschen Angriff auf Krankenhäuser, Kirchen und Zivilisten umgemünzt – mit einer heute noch anhaltenden Wirkung. Der Bombenangriff auf Coventry war nach Longmate und dem Schweizer Historiker Theo Weber eine legitime Kriegshandlung. Im englischen Kriegskabinett sprach man vom bisher schwersten Angriff auf ein Rüstungszentrum, dessen Ausschaltung nach den Worten des britischen Ministers für Flugzeugproduktion, Lord Beaverbrook, die Royal Air Force lahmlegen würde. Und der Kanonikus der Kathedrale von Coventry schrieb am 12. Februar 1995 in der britischen Wochenzeitung Observer: "Wenn Krieg Krieg war, dann war Coventry ein legitimes Bombenziel: Es war das Herz der britischen Rüstungsindustrie."

"Wenn Krieg Krieg war, dann war Coventry ein legitimes Bombenziel"

Das "zweistufige Verfahren" des Abwurfs von Sprengbomben, die Dächer abrissen, die Fenster eindrückten und Wasserleitungen und das Telefonnetz zerstörten und die nachfolgende Belegung mit Brandbomben, die die wehrlose Stadt dann verbrannten, habe man seitdem "Coventrieren" genannt. Bei dem Luftangriff auf Coventry, dem 554 Einwohner zum Opfer fielen, sei die Stadt mit Spreng- und Brandbomben im Verhältnis 45 zu 55 Prozent belegt worden, so Weinstein. Die Brandbomben seien nicht zu löschen gewesen und hätten Feuerstürme und andere sich weit dehnende Flächenbrände ausgelöst. Ist das historisch haltbar?

BOOG: Das Mischungsverhältnis von Brand- und Sprengbomben gegen Coventry war nicht, wie Weinstein und Friedrich bei genauerem Lesen von Longmates Buch hätten wissen können, 45 zu 55 Prozent, sondern nur etwa 10 zu 90 Prozent. Auf jeden Fall war der Brandbombenanteil weit unter 20 Prozent. Es waren die Engländer, die später über 60 Prozent Brandbomben benutzten, um die deutschen Städte auszubrennen. Nicht umsonst sagte der britische Luftmarschall Harris nach dem Krieg, die Deutschen hätten es versäumt, Englands Städte in Brand zu setzen. Der Gebrauch von Brandbomben deutet nicht unbedingt auf Terrorabsichten hin. Sie dienten in geringen Beimischungen auch zur Zerstörung von Brücken, zur Illuminierung des Zieles und zum Ausglühen von Werkzeugmaschinen, die sonst durch Sprengbomben kaum beschädigt werden konnten.

Ist Dresden also keine Rache für Coventry?

BOOG: Der von Herrn Weinstein hervorgerufene Eindruck, erst hätten die Deutschen mit dem Bombenkrieg angefangen, und dann hätten die Engländer zurückgeschlagen, ist falsch. Schon 1944 bestätigte der Völkerrechtsexperte im britischen Luftfahrtministerium, Spaight, daß es genau umgekehrt war. Dies haben englische und amerikanische Historiker später auch so gesehen.

Aber auch die deutsche Luftwaffe soll nach ersten alliierten Luftangriffen, die primär der Terrorisierung der Zivilbevölkerung und nicht der Vernichtung militärischer Ziele dienten, beabsichtigt haben, Terrorangriff durch Terrorangriff zu erwidern.

BOOG: Weinstein und Friedrich verschweigen die später auch vom Stabschef der amerikanischen Heeresluftstreitkräfte für London bestätigte Feststellung in dem amtlichen britischen Geschichtswerk von Basil Collier ("The Defence of the United Kingdom", London 1957 – d. Red.), wonach die deutsche Luftwaffe, wenn sie damals Terrorangriffe auch erwog – das taten andere auch – sich 1940 und 1941 bemühte, militärisch relevante Ziele, etwa Fabriken, Hafenanlagen oder Flugplätze, anzugreifen.

"Historiker solltendie Vergangenheit differenziert betrachten"

Und das war, wie genauere Untersuchungen ergeben hätten, auch ihre Absicht gewesen. Bis zum Ausbrennen von Lübeck und Rostock im Frühjahr 1942 hatte es Hitler – nicht aus Menschenfreundlichkeit – vermieden, durch planmäßige Terrorangriffe die Engländer zu Gleichem zu provozieren, weil er wegen der Bindung der Luftwaffe an der Ost- und Südfront nicht zurückschlagen konnte. Dann allerdings schwenkte auch er – mit unzureichenden Mitteln – auf diese Art von Bombenkrieg als Regel ein.

Können Sie sich erklären, was Jörg Friedrich – und im Anschluß an ihn Weinstein – zu der Wiederholung solcher längst widerlegter Thesen bewogen hat?

BOOG: Herr Weinstein perpetuiert mit seinem Artikel – wohl gegen seine Absicht – eine alte englische und deutsche Kriegspropagandalegende. Die Engländer wollten damit ihren Gegner herabsetzen, die Deutschen dagegen ihren Gegnern Angst einjagen. Eine solche Propagandalegende, die im Krieg legitim war, ist aber inzwischen gerade von der englischen, auch amtlichen historischen Forschung seit Jahrzehnten widerlegt. Die Sprachbarriere, die Konzentration der deutschen Nachkriegsgenerationen auf den Wiederaufbau und den Genuß des neuen Wohlstandes, die Verbannung der Militärgeschichte von den Universitäten und die Tatsache, daß wissenschaftliche Artikel zum Thema nur von wenigen gelesen werden, mögen das Haftenbleiben solcher Legenden mitverursacht haben. Der Boden hierfür war vorbereitet durch unser Schuldgefühl wegen der NS-Verbrechen. Der Historiker sollte jedoch die Vergangenheit differenziert und ausgewogen betrachten und nicht einfach alles, was damals war, pauschal verurteilen. Schuld muß beim Namen genannt werden, wo sie war, und nach damaligen Maßstäben "normales" Handeln muß nicht verschwiegen werden. Ich möchte nur, daß wir beim Bekennen unserer Schuld nicht in übertriebenen "Sündenstolz" verfallen. Beflissenheit weckt kein Vertrauen.


 
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