© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   12/98 13. März 1998

 
 
Mythos 1848: Die deutsche Revolution und ihr Gedenken
Ohne Nation keine Freiheit, ohne Freiheit keine Nation
von Andreas Mölzer

Die Revolution von 1848 ist eine europäische Revolution. Sie beginnt in Frankreich, erfaßt Mitteleuropa bis Ungarn. Ihr Zentrum aber liegt in Deutschland. Als "deutsche, bürgerliche Revolution" erschüttert sie zwei der fünf europäischen Großmächte, die die Heilige Allianz bilden: Österreich und Preußen. Ihre Zentren sind im Grunde Wien und Berlin, ihr geistiger Kristallisationspunkt die Frankfurter Paulskirche, ihre blutig-kriegerischen Ränder befinden sich in Baden und in Ungarn.

Das seit der Aufklärung und der Napoleonischen Periode aufgestiegene Bürgertum war im Zuge der frühen Industrialisierung wirtschaftlich bereits emanzipiert. Im Zuge des Biedermeiers und der Romantik emanzipierte es sich auch kulturell. Von der großen historischen Betrachtungsweise her bedeutet die Revolution von 1848 also das Streben des Bürgertums auch, politisch, entsprechend dieser wirtschaftlichen und kulturellen Emanzipation, Mitbestimmung gegenüber Adel und Klerus zu erkämpfen.

Gerade aber der zentral bürgerliche Charakter der Revolution von 1848 war ihre Schwäche. Bereits das Erreichen von Verfassungsversprechungen seitens der Fürsten genügte, um dem Bürgertum den revolutionären Elan zu nehmen. Gewaltanwendung durch die Revolutionäre und militärische Maßnahmen durch die Reaktion führten sofort dazu, daß sich das Bürgertum verschreckt von der Revolution abwandte.

In typisch deutscher Weltfremdheit und Theorieverliebtheit agierte die geistige Spitze dieser deutschen Revolution. Das Professoren-Parlament in der Frankfurter Paulskirche tagte noch, als die Revolution machtpolitisch längst unterlegen war. Ebenso der österreichische Reichstag in Kremsier, der noch an Grundrechtsentwürfen feilte, als Windischgrätz in Wien die Revolution bereits blutig niedergeschlagen hatte.

Die eigentliche Speerspitze der Revolution – am deutlichsten zeigt sich dies in Wien – waren die Studenten, die immer nur dann realpolitische Macht auszuüben vermochten, wenn sie sich, wie in Wien, mit den Arbeitern verbündeten. Zirka 5.000 Mitglieder der Akademischen Legion in Wien und die 100.000 Erdarbeiter (Eisenbahnarbeiter) trieben die Revolution in Wien, sowohl im März als auch im Mai als auch beim Oktoberaufstand, voran. Die Reaktion wußte diesen treibenden Faktor sehr geschickt zu neutralisieren: An der Wiener Universität wurden bereits im Mai Ferien erklärt. Die meisten Studenten reisten aus Geldmangel oder weil sie reisen wollten, ab. Die Akademische Legion hatte dann nur mehr 1.000 Mitglieder. Und die Erdarbeiter wurden zu Bauarbeiten fern der Hauptstadt abkommandiert. Dies war ein Grund, warum im Sommer 1848 der Bau der Semmeringbahn begann.

Die bürgerliche Revolution von 1848 wollte den Rechts- und Verfassungsstaat erkämpfen und schaffte dies mit zehnjähriger Verspätung auch. Die Ansätze zur sozialen Revolution blieben im Jahr 1848 stecken. Obwohl das Kommunistische Manifest im selben Jahr erlassen wurde, war es schlicht eine Übertreibung, wenn es dort hieß: "Ein Gespenst geht in Europa um – der Kommunismus". Die völlig verelendeten Proletarier des Biedermeiers hatten noch kein politisches Bewußtsein und auch keine Führung. Der frühe Sozialismus stocherte noch im Nebulosen der Theorie herum und hatte zur Lebenswelt der Arbeiter keine Beziehung. Jene Wiener Studenten, wie der 22jährige, aus Mähren stammende Willner, genannt "Arbeiterkönig", die als Mitglieder der Akademischen Legion die Arbeiter in der Revolution anführten, hatten erste Ansätze zur Lösung der sozialen Frage.

Das wirkungsmächtigste Ergebnis der Revolution war Hans Kudlichs gerade zur rechten Zeit gestellter Antrag zur Aufhebung der Leibeigenschaft. Er konnte selbst nach dem Sieg der Reaktion nicht mehr rückgängig gemacht werden und bedeutete das eigentliche Ende des feudalen Systems in Österreich. Die radikale demokratische Linke der Revolution, weitgehend aus urburschenschaftlichem Geist und Organisation entstanden, wurde vor allem im südwestdeutschen Baden um Friedrich Hecker und Gustav von Struve aktiv. Ihre Versuche, die Republik auszurufen, waren unzureichend, da die spießige Bourgeoisie für die dazu notwendigen Kämpfe zu feige war und da sie wirkliche Beziehungen zur deklassierten Proletarierschicht nicht hatten.

Das Parlament in der Frankfurter Paulskirche war das einzige frei gewählte gesamtdeutsche Parlament der Geschichte, bis 1848 und seit 1848. Es ist in machtpolitischer Hinsicht jämmerlich gescheitert. In geistiger Hinsicht aber war es eine Sternstunde der deutschen Kulturgeschichte. Genannt sei Jakob Grimms Rede, die mit den Worten begann: "Deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Und jeder, der deutschen Boden betritt, soll ein freier Mensch sein…"

Auch der österreichische Reichstag ist auf jene seltsame Art gescheitert, wie die Frankfurter Paulskirche. Er sollte Spitze und Höhepunkt der revolutionären Entwicklung sein, ließ sich aber doch durch die fürstliche Reaktion von der eigentlichen Revolution abkoppeln. Während in Wien, im Oktober 1848, die Revolution niedergeschlagen wurde, waren viele der besten Köpfe im mährischen Kremsier im Reichstag, um dort am Grundrechtsentwurf herumzufeilen. Dieser Entwurf der Grundrechte war im übrigen von so hoher intellektueller und moralischer Qualität, daß er bis zum heutigen Tage Grundlage für die in der geltenden Verfassung aufgeführten Grundrechte blieb.

Die Demokraten des Jahres 1848, Hans Kudlich, Wenzel Cäsar Messenhauser, Robert Blum, die Badener Hecker und Struve, Heinrich von Gagern, der Präsident des Paulskirchenparlaments, all die großen Geister, die in diesem Parlament saßen, Carl Schurz, der spätere US-amerikanische Innenminister, der Reichsverweser Erzherzog Johann als eine der fürstlichen Galionsfiguren des Jahres 1848, sie sind Exponenten des "guten" politischen Deutschland zwischen Wien und Berlin, auf die sich jedermann, der Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit im deutschsprachigen Raum vertritt, berufen muß.

Österreich ist ein Land, in dem der aufgeklärte Absolutismus in seiner josephinischen Ausformung noch immer stilprägend ist. Hier waren sogar die Revolutionäre – etwa jene von 1848 – "dero Majestät ergebenste und gehorsamste" Revoluzzer, deren schärfste Waffe die Petition war. Selbst für die Führung der nach dem Märzaufstand 1848 ertrotzten Nationalgarde und der Akademischen Legion in Wien ließ man sich gehorsam kaiserliche Offiziere aus der Hocharistokratie, den Montecuccoli und den Colloredo vor die Nase setzen. Kein Wunder, daß auch die Traditionspfleger dieser österreichischen Revolution von 1848 sich heute gewissermaßen als gerichtlich beeidete und behördlich konzessionierte Nachlaßverwaltung des Sturmjahres verstehen und daß hier ein bürokratisch anmutender Wettstreit um diese Tradition stattfindet.

Caspar Einem als linker Flügelmann der SPÖ meinte, man dürfe dieses Revolutionserbe von 1848 nicht den bösen blauen Populisten überlassen. Er, dessen Urahn, Otto von Bismarck, 1848 auf der Seite der Reaktion stand und dafür eintrat, die Revolutionäre von preußischen Artilleristen niederkartätschen zu lassen, beklagt heute, daß die sozialen Aspekte der Revolution von 1848 durch den unheilvollen Nationalismus überlagert wurden.

Jörg Haiders Wiener Mannen indes gerieren sich ganz als die wahren Erben der bürgerlichen deutschen Revolution von 1848, legen Kränze am Grab des Robert Blum nieder, gedenken der Märzgefallenen, nehmen einfach die Gelegenheit wahr, sich als die eigentlichen und berufenen Erbwalter der Gründerväter der österreichischen Demokratie darzustellen. Die Gedenkaktionen der Liberalen sind da nachgerade bescheiden, und die ÖVP erinnert sich gar nur sparsam des Bauernbefreiers Hans Kudlich. Selbst das mag ihr unangenehm sein, da die wenigen Bilder, die von diesem aus dem Revolutionsjahr existieren, ihn im altdeutschen Rock des Burschenschafters mit dem schwarz-rot-goldenen Band zeigen. Und das paßt so gar nicht in die heute geläufigen Gutmenschen-Geschichtsbilder.

Da sind wir aber schon bei der eigentlichen Crux dieses Revolutionsgedenkens, bei der Vielschichtigkeit der Revolution selbst. Der Gedenkanspruch von Caspar Einem und Genossen übersieht, daß das "Kommunistische Manifest" im Jahre 1848 eine Randerscheinung war, die auch von den Trägern der sozialen Erhebung, beispielsweise von den Wiener Erdarbeitern, weitgehend ignoriert wurde. Daß hingegen das nationale großdeutsche Element bei den Revolutionären, und da vor allem bei jenen der Ultralinken, einfach dominant war. Die deutsche Trikolore Schwarz-Rot-Gold hat nicht zufällig von März 1848 bis zur Erstürmung der Stadt durch Jelacics Kroaten und die Truppen des "Mörders Windischgrätz" im Oktober des Jahres vom Stephansturm geweht. Diese so wesentliche Facette der Revolution von 1848, die eben zwischen Wien und Berlin eine "deutsche" war, will man heute als politisch unkorrekt ausblenden. Dabei war die Nation anno 1848 für Leute wie die badischen Radikaldemokraten Friedrich Hecker oder Gustav von Struve oder für die Wiener Revolutionäre wie eben Hans Kudlich oder Ernst Violand, für Fischhof, Füster, Messenhauser, für die Paulskirchenabgeordneten von Robert Blum bis Heinrich von Gagern ein zutiefst demokratisches Projekt: Ohne Nation keine Freiheit, ohne Freiheit keine Nation.

Aber auch die freiheitlichen Erbansprüche auf die 48er-Revolution sind in erster Linie vom wenig tiefschürfenden Versuch, tagespolitisches Kleingeld zu wechseln, geprägt. Man stilisiert sich zum wahren Erben der "bürgerlichen, deutschen Revolution" und übersieht, daß es gerade dieses Bürgertum war, welches die Revolution als erster Stand verraten hat: Bereits das Verfassungsversprechen durch die Hof-Kamarilla und die Gewährung von
Preß-, Versammlungsfreiheit und ähnlicher Bürgerrechte hat genügt, um die Bourgeoisie aus dem revolutionären Prozeß herauszubrechen. Die Studenten der Akademischen Legion und die Wiener Erdarbeiter, 5.000 Jungakademiker und 100.000 entwurzelte Proletarier, waren die treibenden Kräfte der Revolution im Wien des Jahres 1848.

Genau jene Vertreter der Wiener Bourgeoisie waren es, die den "Mörder Windischgrätz" ersuchten, Wien doch zu bombardieren, da nur so die Revolution beendet werden könne, und die diesen nach dem Bombardement im Oktober 1848 mit einer Dankesadresse huldigten. Also auch hier ein Revolutionsgedenken, das weniger historische Wahrhaftigkeit im Mittelpunkt hat als vielmehr tagespolitische Nutzbarkeit derselben.

Übersehen sollte man aber nicht, daß genau dies im Sinne pragmatisch-politischer Vernunft legitim ist. Die Revolution von 1848 ist ein Mythos. Was im Sinne Leopold von Rankes "wirklich war", ist zweitrangig. Bereits in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde die 48er-Revolution als "Juden- und Jakobiner-Verschwörung" abqualifiziert, und zwar von deutschnationaler Seite, also von den alldeutschen Jungtürken, die gegen die hochliberalen Väter, eben gegen die 48er aufbegehrten. Anders die Sozialdemokratie, die zumindest bis zu ihrem Verbot in der Dollfuß-Ära Revolutionsgedenken und Revolutionsmythos zelebrierte. Dies war allerdings nach 1945 vorbei, da man das deutschnationale Element, das für Victor und Friedrich Adler, für Otto Bauer und natürlich auch für Karl Renner völlig selbstverständlich und positiv war, nicht mehr mittragen konnte. Kein Wunder also, daß es 1948 kein nennenswertes Revolutionsgedenken gab.

Heute indessen gibt es eine Oppositionskraft, die sich als radikalliberale Emanzipationsbewegung gegen das politische Establishment der Zweiten Republik versteht. Es gibt tendenziell Einschränkungen der Gedan-
ken-, Meinungs- und Redefreiheit durch political correctness, welche das zeitgenössische elektronische Biedermeier in einem gewissen inneren Zusammenhang mit dem historischen Vormärz setzen. Gedenken an 1848 hat daher über die historische Reminiszenz hinaus so etwas wie ideengeschichtliche Aktualität.

Bezeichnend und entlarvend ist, wie sich die verschiedenen politischen Lager und Parteien diesem Gedenkjahr nähern. Die allzu offensichtliche Abstinenz der Volkspartei wurde schon angedeutet; der sozialdemokratische Traditionsbruch ebenso wie der freiheitliche Versuch, sich anhand des Jahres 1848 endlich mit einem historischen Datum zu identifizieren, welches nicht mit Völkermord und Diktatur gleichgesetzt wird. Der vor 60 Jahren erfolgte Anschluß des Landes an das Deutsche Reich wird da von freiheitlicher Seite tunlichst ausgeblendet, obwohl der historische Kausalzusammenhang zwischen 1848 und 1938 eher Anlaß für Diskussion und Nachdenken sein müßte. Die unvollendete demokratische Revolution von 1848 mit dem romantischen Traum von der gesamtdeutschen Republik und der 90 Jahre später vollendete großdeutsche Machtstaat unter totalitärem Vorzeichen haben natürlich miteinander zu tun. Traum und Tragödie sind nicht voneinander zu trennen.

Versucht man zu analysieren, was von 1848 geblieben ist, so gibt es da immerhin den Grundrechtsentwurf des österreichischen Reichstags, der in Kremsier ausgearbeitet wurde und bis hin zu geltenden Verfassungsbestimmungen vorbildlich geblieben ist. Und dann gibt es da jenes seltsam machtlose und so liebenswert verträumt humanistische Parlament in der Frankfurter Paulskirche, wo die edelsten Geister ihrer Zeit diskutierten und um Verfassung und Rechtsstaat stritten, als die Stiefel der preußischen und österreichischen Grenadiere rund um sie herum längst das revolutionäre Feuer austraten. Und doch bleibt Jakob Grimms Wort aus der Paulskirche "Deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Und jeder, der deutschen Boden betritt, soll ein freier Mann sein…" Überdies bleibt die Erinnerung an Revolutionäre, wie etwa den aus Mähren stammenden Studenten Willner, der als Mitglied der Akademischen Legion, als kaum Zwanzigjähriger, den Ehrentitel "Arbeiterkönig" trug, weil er unerschrocken und leidenschaftlich die Interessen und Rechte der Wiener "Habenichtse", der Entrechteten und Erniedrigten, vertrat. Schließlich bleibt das Gedenken an die zahlreichen Opfer an Leib und Leben, die die Kämpfe für die Revolution von 1848 brachten: an den Paulskirchenabgeordnete Robert Blum, den man in der Brigittenau erschoß, an den Stadtkommandanten Wenzel Cäsar Messenhauser, der – ein wenig skurril – als ehemaliger Offizier die eigene Hinrichtung kommandierte, nicht ohne zuvor seinen literarischen Nachlaß, den heute keiner mehr kennt, geordnet zu haben. An jene vielen, die in den Wiener Oktoberkämpfen des Jahres 1848 fielen, und jene, die im Badischen Aufstand, etwa bei der Belagerung der Festung Rastatt, als Demokraten ihr Leben gaben.

Verglichen damit wirkt die Revolte von 1968 zumindest in ihrer österreichischen Ausprägung wenig heroisch, ja geradezu banal. Eine Banalität, wie sie sich erst in der politischen Lebens-Conclusio des Kommunarden Fritz Teufel, einer der Symbolfiguren des Jahres 1968, äußerte. Jahre später schrieb er: "Still schäm ich mich in meiner Zelle, Fritz Teufel, Ausgeburt der Hölle." Skurrilität eben.

In Berlin hieß es 1848: In Preußen macht nur einer Revolution, und das ist der König. In Österreich, in seiner obrigkeitsstaatlichen Tradition des aufgeklärten Absolutismus ist es ähnlich. Nicht die Hörsaal-Fäkalaktionen der 68er änderten das Land, nein, der sozialdemokratische Sonnenkönig Bruno Kreisky tat dies, in durchaus josephinischer Manier. Und die Revolution von 1848, trotz ihrer heroischen Opfer und ihrer edlen Beschwörung der Grund- und Freiheitsrechte, änderte ebenso wenig.

Erst jene 1848er, die den Marsch durch die Institutionen antraten, um dann als Minister die hochliberale Ära in den 60er- und 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts zu prägen, schufen – indessen selbst Obrigkeit geworden – den österreichischen Rechts- und Verfassungsstaat. Jene politischen Kräfte aber, die sich heute mit den Federn vergangener Revolten und Revolutionen schmücken wollen, könnten sich ihre diesbezüglichen Erbansprüche in schönster obrigkeitsstaatlicher österreichischer Tradition behördlich bestätigen lassen: Vielleicht vom Bezirksgericht Wien Mitte oder irgendeinem sozialpartnerschaftlich besetzten Schlichtungssausschuß. Patentinhaber dieser oder jener revolutionären Tradition zu sein ist aber ein Merkmal des Spießers – ob er sich nun Ende des vorigen Jahrhunderts als "48er" gab oder heute als "68er".


 
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