© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/98 20. März 1998

 
 
"Chance 2000": Theaterregisseur Schlingensief bietet Brot und Spiele fürs gemeine Volk
"Einfach so mitmachen"
von Ronald Gläser

 Die deutsche Parteienlandschaft hat jetzt noch mehr zu bieten. Nach bizarren Gruppen wie der "Deutschen Biertrinkerunion" und der "Union des nicht gänzlich überdachten Lächelns trotz innerer Genialität" (kurz: UNGÜLTIG) gibt es jetzt endlich auch eine Partei, die im Scheitern die Chance sieht. Und eine Parteigründung ist immer eine interessante Sache. Zumal in einem Wahljahr, in dem es um jede Stimme geht, in dem jede Gruppe heftig umworben wird. Und auch wichtig: Die Partei gründet man am besten in der Hauptstadt. Diese oder ähnliche Ideen muß auch Christoph Schlingensief, vorbestrafter Regisseur an der Berliner Volksbühne, gehabt haben, als er sich mit dem Gedanken trug, eine neue Partei zu gründen. Er hat sich dann den Werbeslogan einer großen Biermarke zu Herzen genommen.

Am Freitag, dem 13., trommelte er in Berlin Hunderte von Anhängern zusammen, um die Partei CHANCE 2000 aus der Taufe zu heben. Doch wer sich anläßlich dieses Ereignisses auf ein großes Buffet oder wenigstens ein kostenloses Glas Champagner gefreut hatte, wurde an diesem Abend bitter enttäuscht: Man traf sich im Prenzlauer Berg, dem wohl skurrilsten Berliner Wahlkreis, in dem ein westdeutscher Ex-Admiral, gegen den ein Haftbefehl vorliegt, für die PDS, ein Bürgerrechtler, der für die ehemalige Blockpartei CDU antritt, und ein gescheiterter FDP-Vorsitzender um die Stimmen der Wähler ringen. Trotz des Eintrittspreises von 18 DM drängten sich rund 500 zumeist junge Leute in das Zirkuszelt.

Die ganze Veranstaltung entpuppt sich auch als ein wirklicher Zirkus. Wer den Regisseur Schlingensief kennt, weiß, daß der es nicht immer ganz ernst meint und Improvisation für ihn oftmals das Gebot der Stunde ist. Nach der dreistündigen Parteigründung scheinen auch immer noch Zweifel angezeigt, ob er den Sprung von der Theater- auf die politische Bühne aufrichtig meint. Unterbrochen von Showeinlagen werden politisch-unpolitische Äußerungen abgesondert, die in der Harald-Schmidt-Show unter der Rubrik "Unser Ossi" laufen würden.

Sigrid Löffler, 60 Jahre und gebürtige Ost-Berlinerin, tritt auf die Bühne: "Wir brauchen keine Arbeit, wir brauchen nur das Geld." Schlingensief fordert, "die zunehmende Vereinzelung in der Gesellschaft zu stoppen".

Mainstream-Kapitalismus-Kritik darf in der PDS-Hochburg natürlich nicht fehlen. So verkündet ein Seiltänzer: "Die sogenannten freien Märkte haben eine ungeheure Leere auf der Welt hinterlassen." Wer seinen Gästen fast 20 DM abknöpft, sollte sich allerdings mit profitfeindlichen Sprüchen wirklich zurückhalten...

Dann wird die ZDF-Hochrechnung der ersten freien Volkskammerwahl von 1990 eingespielt, wo sich ein großer schwarzer Balken aufbaut (auf die CDU entfielen 47 Prozent der Stimmen, auf die SPD 23 Prozent usw.), Buhrufe erschallen, als der Sieg der Union bekanntgegeben wird, dagegen wird das PDS-Ergebnis mit Beifallsstürmen bedacht. Schlingensief, erzählt danach die rührende Geschichte von seinem Vater, der im hohen Alter seinen Führerschein abgeben mußte. Wenig nachvollziehbar erscheint die Parallele zum Bundeskanzler, der jetzt abtreten solle, "damit er in Würde sterben kann". Einfacher zu verstehen ist das Lied, das anschließend intoniert wird. "Wir sagen THK" lautet der einzige Text, was wohl "Tötet Helmut Kohl" bedeuten soll. Schlingensief war schon mal im Gefängnis, weil er auf der documenta mit einem Plakat mit der Aufschrift "Tötet Helmut Kohl" demonstriert hatte. Betretenes Schweigen. Die Nummer hat nicht gezogen. Vermutlich haben sich die Anwesenden einen Restbestand an Pietät bewahrt. Oder es lag daran, daß sie nur Abkürzungen wie MfS, ZK oder NVA kennen, und mit "THK" eben nicht viel anfangen konnten. Es folgt der Appell an die gemeinsame DDR-Vergangenheit: "Die PDS geht unter, und das, obwohl die Arbeiterklasse vor 1989 alles aufgebaut und alles erreicht hat." Außer Phrasen ist ein Anliegen bislang nicht vermittelt worden, da schreitet die Versammlung zur Parteigründung. Der Regisseur eröffnet förmlich die Sitzung. Und schon ist es wie im richtigen Leben: Jeder will reden, und gegen jeden Vorschlag hat irgendeiner irgendeinen Einwand. Per Akklamation entscheidet man sich für den Parteinamen: CHANCE 2000. Endlich werden die Interessenten nach vorn gebeten, um sich in die Mitgliederlisten eintragen zu können. Und sie kommen. Eins der ersten 312 Gründungsmitglieder ist Kirstin, 22, Verlagsangestellte aus Berlin. Sie will "einfach so" mitmachen. Und Beiträge entrichten? "Ja, klar!"

Sandra ist 21, sie studiert an der Humboldt-Universität, mag aber nicht in die Partei eintreten. Wählen würde sie die Partei durchaus. Aber eigentlich ist sie nur hier, weil sie Schlingensiefs Ironie und Sarkasmus bewundert, "der ist doch eine echte Ausnahme in der Theaterlandschaft".

Schließlich verkündet ein Sprecher mit einem Megaphon immer wieder: "Wir sind der demokratische Autismus. Wir sind eine autogene Streßplastik." Alles klar! Und Schlingensief teilt seinen Groupies mit, in der kommenden Woche werde der öffentlich-rechtliche Radiosender Fritz, der aus Zwangsbeiträgen der Hörer finanziert wird, kostenlose Werbung für die neue Partei machen. Ein weiterer Grund, der GEZ unverzüglich mitzuteilen, man habe Fernseher und Radio abgeschafft!

Die Partei ruft in einer ersten Mitteilung alle Mitglieder auf, in den Wahlkreisen als Kandidaten anzutreten und sich selbst zu wählen: "Falls Du von allen Kandidaten des Wahlkreises die meisten Stimmen erhalten solltest, wirst Du automatisch Bundestagsabgeordneter… Im Bundestag kannst Du dann machen was Du willst."

 

Wer sich dennoch für Politik als Lachnummer, für Partei als Zirkus, für den Komödianten als Politiker interessiert, der kann am ersten Parteitag von "Chance 2000" teilnehmen, 22. März, 17.00 Uhr, Kastanienallee 7–9 im Prenzlauer Berg.


"Einfach so mitmachen"
von Roland Gläser

 Die deutsche Parteienlandschaft hat jetzt noch mehr zu bieten. Nach bizarren Gruppen wie der "Deutschen Biertrinkerunion" und der "Union des nicht gänzlich überdachten Lächelns trotz innerer Genialität" (kurz: UNGÜLTIG) gibt es jetzt endlich auch eine Partei, die im Scheitern die Chance sieht. Und eine Parteigründung ist immer eine interessante Sache. Zumal in einem Wahljahr, in dem es um jede Stimme geht, in dem jede Gruppe heftig umworben wird. Und auch wichtig: Die Partei gründet man am besten in der Hauptstadt. Diese oder ähnliche Ideen muß auch Christoph Schlingensief, vorbestrafter Regisseur an der Berliner Volksbühne, gehabt haben, als er sich mit dem Gedanken trug, eine neue Partei zu gründen. Er hat sich dann den Werbeslogan einer großen Biermarke zu Herzen genommen.

Am Freitag, dem 13., trommelte er in Berlin Hunderte von Anhängern zusammen, um die Partei CHANCE 2000 aus der Taufe zu heben. Doch wer sich anläßlich dieses Ereignisses auf ein großes Buffet oder wenigstens ein kostenloses Glas Champagner gefreut hatte, wurde an diesem Abend bitter enttäuscht: Man traf sich im Prenzlauer Berg, dem wohl skurrilsten Berliner Wahlkreis, in dem ein westdeutscher Ex-Admiral, gegen den ein Haftbefehl vorliegt, für die PDS, ein Bürgerrechtler, der für die ehemalige Blockpartei CDU antritt, und ein gescheiterter FDP-Vorsitzender um die Stimmen der Wähler ringen. Trotz des Eintrittspreises von 18 DM drängten sich rund 500 zumeist junge Leute in das Zirkuszelt.

Die ganze Veranstaltung entpuppt sich auch als ein wirklicher Zirkus. Wer den Regisseur Schlingensief kennt, weiß, daß der es nicht immer ganz ernst meint und Improvisation für ihn oftmals das Gebot der Stunde ist. Nach der dreistündigen Parteigründung scheinen auch immer noch Zweifel angezeigt, ob er den Sprung von der Theater- auf die politische Bühne aufrichtig meint. Unterbrochen von Showeinlagen werden politisch-unpolitische Äußerungen abgesondert, die in der Harald-Schmidt-Show unter der Rubrik "Unser Ossi" laufen würden.

Sigrid Löffler, 60 Jahre und gebürtige Ost-Berlinerin, tritt auf die Bühne: "Wir brauchen keine Arbeit, wir brauchen nur das Geld." Schlingensief fordert, "die zunehmende Vereinzelung in der Gesellschaft zu stoppen".

Mainstream-Kapitalismus-Kritik darf in der PDS-Hochburg natürlich nicht fehlen. So verkündet ein Seiltänzer: "Die sogenannten freien Märkte haben eine ungeheure Leere auf der Welt hinterlassen." Wer seinen Gästen fast 20 DM abknöpft, sollte sich allerdings mit profitfeindlichen Sprüchen wirklich zurückhalten...

Dann wird die ZDF-Hochrechnung der ersten freien Volkskammerwahl von 1990 eingespielt, wo sich ein großer schwarzer Balken aufbaut (auf die CDU entfielen 47 Prozent der Stimmen, auf die SPD 23 Prozent usw.), Buhrufe erschallen, als der Sieg der Union bekanntgegeben wird, dagegen wird das PDS-Ergebnis mit Beifallsstürmen bedacht. Schlingensief, erzählt danach die rührende Geschichte von seinem Vater, der im hohen Alter seinen Führerschein abgeben mußte. Wenig nachvollziehbar erscheint die Parallele zum Bundeskanzler, der jetzt abtreten solle, "damit er in Würde sterben kann". Einfacher zu verstehen ist das Lied, das anschließend intoniert wird. "Wir sagen THK" lautet der einzige Text, was wohl "Tötet Helmut Kohl" bedeuten soll. Schlingensief war schon mal im Gefängnis, weil er auf der documenta mit einem Plakat mit der Aufschrift "Tötet Helmut Kohl" demonstriert hatte. Betretenes Schweigen. Die Nummer hat nicht gezogen. Vermutlich haben sich die Anwesenden einen Restbestand an Pietät bewahrt. Oder es lag daran, daß sie nur Abkürzungen wie MfS, ZK oder NVA kennen, und mit "THK" eben nicht viel anfangen konnten. Es folgt der Appell an die gemeinsame DDR-Vergangenheit: "Die PDS geht unter, und das, obwohl die Arbeiterklasse vor 1989 alles aufgebaut und alles erreicht hat." Außer Phrasen ist ein Anliegen bislang nicht vermittelt worden, da schreitet die Versammlung zur Parteigründung. Der Regisseur eröffnet förmlich die Sitzung. Und schon ist es wie im richtigen Leben: Jeder will reden, und gegen jeden Vorschlag hat irgendeiner irgendeinen Einwand. Per Akklamation entscheidet man sich für den Parteinamen: CHANCE 2000. Endlich werden die Interessenten nach vorn gebeten, um sich in die Mitgliederlisten eintragen zu können. Und sie kommen. Eins der ersten 312 Gründungsmitglieder ist Kirstin, 22, Verlagsangestellte aus Berlin. Sie will "einfach so" mitmachen. Und Beiträge entrichten? "Ja, klar!"

Sandra ist 21, sie studiert an der Humboldt-Universität, mag aber nicht in die Partei eintreten. Wählen würde sie die Partei durchaus. Aber eigentlich ist sie nur hier, weil sie Schlingensiefs Ironie und Sarkasmus bewundert, "der ist doch eine echte Ausnahme in der Theaterlandschaft".

Schließlich verkündet ein Sprecher mit einem Megaphon immer wieder: "Wir sind der demokratische Autismus. Wir sind eine autogene Streßplastik." Alles klar! Und Schlingensief teilt seinen Groupies mit, in der kommenden Woche werde der öffentlich-rechtliche Radiosender Fritz, der aus Zwangsbeiträgen der Hörer finanziert wird, kostenlose Werbung für die neue Partei machen. Ein weiterer Grund, der GEZ unverzüglich mitzuteilen, man habe Fernseher und Radio abgeschafft!

Die Partei ruft in einer ersten Mitteilung alle Mitglieder auf, in den Wahlkreisen als Kandidaten anzutreten und sich selbst zu wählen: "Falls Du von allen Kandidaten des Wahlkreises die meisten Stimmen erhalten solltest, wirst Du automatisch Bundestagsabgeordneter… Im Bundestag kannst Du dann machen was Du willst."

 

Wer sich dennoch für Politik als Lachnummer, für Partei als Zirkus, für den Komödianten als Politiker interessiert, der kann am ersten Parteitag von "Chance 2000" teilnehmen, 22. März, 17.00 Uhr, Kastanienallee 7–9 im Prenzlauer Berg.
 
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