© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/98 27. März 1998

 
 
Heiner Müller: Anmerkungen zur Gesamtausgabe seiner Gedichte
Aus der traumlosen Kälte
von Thorsten Hinz

Dieses Buch mit den jahrzehntelang nur verstreut publizierten sowie den nachgelassenen Gedichten Heiner Müllers (1929–1995) ist ein bedeutsames Ereignis. Die nach 1989 entstandene Lyrik Müllers ist der wohl gewichtigste literarische Subtext zum Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums in deutscher Sprache. Es sind teilweise wuchtige, historisch und geschichtsphilosophisch weit ausholende Langgedichte, mit Müllers fortschreitender Krebserkrankung auch aphoristische Verse und düstere Abbreviaturen über den Tod.

Dreimal variierte Müller expressis verbis den berühmten "Engel der Geschichte": 1958 wartete er noch in der Versteinerung, "bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt". In den 70er Jahren war er zum "Engel der Verzweiflung" mutiert, von dem immer noch eine Art apokalyptischer Energie ausging. 1991 war er unkenntlich geworden: "Aus der Geschichte lernen heißt das Nichts lernen."

Seine Auseinandersetzung mit dem ruhmlosen Verschwinden der DDR in der BRD kulminierte im Gedicht "Mommsens Block" (1992), das er anläßlich der Wiedererrichtung der Statue des Historikers Theodor Mommsen im Hof der (Ost-) Berliner Humboldt-Universität schrieb. In den Jahren der DDR verwitterte sie achtlos im Hinterhof, unterdessen Karl Marx den Schlüssel zum Verständnis der Weltgeschichte lieferte. Nach der "Wende" wurde das Denkmal aufpoliert und wieder aufgestellt, aus Müllers Sicht allerdings nicht als Akt historischer Gerechtigkeit, sondern als arrogante Siegergeste ("Taub sind die Sieger die Besiegten stumm", heißt es 1994 im Gedicht "Fremder Blick: Abschied von Berlin") und ein Mißverständnis obendrein. Mommsens Entschluß, den vierten Band seiner "Römischen Geschichte" nicht zu schreiben, der von der Kaiserzeit handeln sollte, in der das Volk mit Brot und Spielen glücklich war, interpretiert Müller als Weigerung des Historikers, sich mit seiner eigenen Gegenwart – der des Bismarck-Reiches – zu arrangieren. Es handelt sich um eine kaum verhüllte Selbstaussprache Müllers; "daß die Meisterwerke Komplizen der Macht sind", hatte er 1977 anläßlich Antonin Artauds notiert. Schweigen ist das letzte Mittel gegen Vereinnahmung: "Wissend der ungeschriebene Text ist eine Wunde/ Aus der das Blut geht das kein Nachruhm stillt".

Geschichte ist Stein gewordenes Fatum. Revolutionen erlauben keine fortschrittsoptimistischen Deutungen mehr, sie markieren die Vollendung von Zeitschleifen und das Balancieren an Abgründen. Die Dialektik des "Volkes" als politisches Subjekt hat ihren liebenswertesten Ausdruck im Ruf nach besserem Geld; ihre schauerlichste Möglichkeit ist im Gedicht "Marx ist tot" (1993) angedeutet, das die Tiraden eines exilrumänischen Taxifahrers in New York wiedergibt: Angekommen in der "Freiheit", erklärt dieser Hitler für "crazy", nämlich weil der nicht alle Juden umgebracht hat, die – Marx, Einstein und Freud und angeblich auch Ceausescu – unser Leben "relativ" machen: "Der Jude/ Ist unser Unglück Hitler hat es gewußt/ Ein einfacher Mann aus Braunau/ War Schul-stoff, In Deutschlands großer Zeit/ Sie hat Früchte getragen weltweit".

Illusionslos über Stalin und seine Verbrechen, ohne Illusionen auch über das Retortenprodukt "DDR", hatte Müller den SED-Staat loyal ertragen, in der Hoffnung, man könne ihm einen geschichtlichen Sinn geben als Notbremse vor dem Totalökonomismus, dessen unvermeidlichen Begleiterscheinungen die Menschenverwertung und -vernichtung sind ("Und manchmal aus den Kellern deines Wohlstands/ Flüstert die Asche singt das Knochenmehl"). Nach 1989 vergleicht er seine Situation mit der von "Ajax zum Beispiel" (1994), der, von einer Göttin zum Narren gehalten, eine Viehherde in dem Glauben erschlug, er vernichte seine Feinde, und sich, wieder sehend geworden, in sein Schwert stürzte. Nach dem Sozialismus-Desaster fühlt Müller sich nurmehr in eine Narren- und Gespensterwelt noch höherer, weil alternativloser Ordnung versetzt, ausweglos angekommen "im aktuellen Gemisch aus Gewalt und Vergessen/ In der traumlosen Kälte des Weltalls". Als 1995 das Arbeitsministerium auf die Idee kam, die Arbeitslosenhilfe statt nach dem letzten Nettoeinkommen nach dem aktuellen "Marktwert" des Arbeitslosen zu berechnen, widmete er Norbert Blüm den postsozialistischen Glückwunsch: "Der Minister für Arbeit/ Korrigiert seinen polnischen Irrtum/ MARX LEBT JESUS IST TOT/ Sein Kreuz ist der Marktwert/ Ein Pyrrhussieg/ Der Utopie".

Man geht nicht zu weit, wenn man Müllers Kehlkopfkrebs, auf den er selber mehrfach anspielte, eine grausame Symbolik zuschreibt, als Antwort des Körpers nämlich auf die List der Geschichte. Auch eine geschichtsphilosophisch begründete Loyalität zur DDR war, wenn man innerhalb ihrer Grenzen lebte, alles andere als eine abstrakte Angelegenheit. Die Mauer drückte den Anspruch des Staates auf die Inbesitznahme auch der physischen Existenz seiner Bewohner aus. Das Bonmot "Die inneren Organe greifen in die inneren Organe" wurde in der DDR oft zitiert. Physisches Aufbäumen – ein häufiges Motiv in Müllers Werk – hatte demzufolge auch eine politische Dimension und stand, auf metaphorischer Ebene, für den Versuch, den "Engel der Geschichte" zum Rauschen zu bringen. Seinen Höhepunkt erreichte es in den Demonstrationen Ende 1989, mit denen die Massen den öffentlichen Raum besetzten – um schließlich in der artifiziellen Welt der Fitnessindustrie und der medialen Simulation anzukommen, die diesen "Körperprotest" leichthin absorbierte. Müller sagte: "Ein Grund für diese Krankheit ist sowieso, glaube ich, daß ich seit Jahren keine Möglichkeit gesehen habe, ein Stück zu schreiben." Das durch die Krankheit erzwungene Flüstern entsprach der auschließlichen Hinwendung des Vollblutdramatikers zur intimeren lyrischen Form.

Mehrfach findet sich in Müllers Werk der Gedanke, daß die Gründe für das Scheitern weniger beim "Feind", als vielmehr bei den Mitstreitern ("Genossen") liegen oder in den eigenen Trug- und Spiegelbildern erkennbar sind. Im todesnahen Gedicht "Traumwald" (1994) wird dieses Motiv noch einmal zitiert, als dem lyrischen Ich ein mit einem Speer bewaffnetes Kind durch den Schnee entgegentritt: "Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich/ Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich".

Heiner Müllers Gedichte sind Trauergesänge aus der Kälte, die bis ins Mark dringen. Thorsten Hinz

 

Heiner Müller: "Die Gedichte". Hrsg. von Frank Hörnigk. Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1998, 360 Seiten, 42 DM


 
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