© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/98 27. März 1998

 
 
Kriminalität: Helmut K. Rüster, Sprecher des Weißen Ringes, zur Strafrechtspflege
"Opfer müssen Vorrang haben"
von Peter Krause

Herr Rüster, in den zurückliegenenden Monaten wurden Fälle bekannt, in denen vorzeitig entlassene Straftäter rückfällig geworden sind. Hat sich durch die öffentliche Erregung das Bewußtsein für Kriminalitätsopfer erhöht?

Rüster: Es ist unfaßbar, daß immer wieder solche brutalen Verbrechen der Anstoß dafür sind, um in einer so gedankenlosen Gesellschaft wie der unseren bewußtseinsbildende Prozesse in Gang zu setzen. Für einen Rechtsstaat ist es eine gefährliche Tendenz, wenn die Bürger beginnen, sich mit dem Verbrechen zu arrangieren. Dann bedarf es immer schlimmerer, spektakulärer Straftaten, um die Leute zum Innehalten zu bewegen. Diese Kindesmorde, die sexuell motivierten Straftaten der jüngeren Zeit, haben die Bevölkerung aus ihrer Lethargie gerissen. Es geht nun darum, die Situation grundlegend zu ändern. Wir müssen die Blockade in politischen Köpfen und juristischen Gremien durchbrechen.

Was bedeutet das für die Arbeit des Weißen Ringes konkret?

Rüster: Es ist unsere Aufgabe, im Interesse der Opfer Defizite im Umgang mit Kriminalität aufzuzeigen.Wenn das öffentliche Bewußtsein nicht groß genug ist, wird auch die Sensibilität in der Politik und Justiz kaum steigen. Täterinteresse steht weiterhin über Opferbelangen. Aber mittlerweile hat sich einiges getan, besonders in den Gesetzen.

Sie meinen das "Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten"?

Rüster: Zum Beispiel. Es schreibt fest, daß Sexualstraftäter vermehrt in therapeutischen Anstalten untergebracht werden müssen, daß der Schutz der Allgemeinheit bei Entscheidungen über vorzeitige Haftentlassungen einen höheren Stellenwert bekommt. Man darf nicht mehr sagen: Gut, der hat einen Teil der Strafe abgesessen, hat jetzt Anrecht auf Freigang, vorzeitige Haftentlassung oder ähnliches. Es muß sehr genau geprüft werden: Ist dieser Mensch wirklich schon so weit, kann man ihn auf freien Fuß setzen?

Auch Gutachten sind nun Pflicht?

Rüster: Ja, Gutachten müssen nun bei besonders rückfallgefährdeten Tätern obligatorisch erstellt werden. Und auch die Therapie ist nun eine Bedingung der Strafaussetzung. Wenn der Täter das nicht will, bleibt er in Haft. Die klare Forderung des Weißen Ringes lautet: der Schutz der Bevölkerung muß Vorrang haben vor Interessen des Täters.

Die Verschärfungen im Bereich der Sexualstraftaten sind am auffälligsten.

Rüster: Wegen der öffentlichen Empörung. Man hat jetzt im Bereich Strafvollzug für Sexualstraftäter gesetzliche Änderungen beschlossen, so die Anordnungen für Sicherungsverwahrung. Früher war diese nur möglich nach der dritten Tat; das heißt, der Täter hat eine schwere Straftat begangen, hat eine zweite Straftat begangen – und mußte noch immer nicht in Sicherheitsverwahrung. Erst nach der dritten wurde darüber nachgedacht. Jetzt muß die Verwahrung schon nach der zweiten geprüft werden.

Sie hatten auch ein Gesetz über Opfersicherung gefordert?

Rüster: Auch das haben wir erreicht. Das Gesetz gewährleistet, daß die Opfer ihre Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche dann, wenn der Täter seine "Story" in der Presse verkaufen konnte, künftig leichter verwirklichen können kraft eines gesetzlichen "Forderungspfandrechts" auf die Verträge zwischen Täter und Medien.

Hat der öffentliche Druck nur auf den Gesetzgeber gewirkt oder auch auf die Gerichte?

Rüster: Im Prinzip schon, wenn es auch solche aberwitzigen Urteile immer wieder geben wird wie jenes vorige Woche in Frankfurt an der Oder, wo zwei junge Männer, die ihre Hunde auf einen Angler gehetzt hatten, der fast zerfleischt worden ist, nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurden – und nun sogar noch Geld als Entschädigung für ihre Untersuchungshaft erhalten. Doch in der Regel sind die Gerichte viel sensibler für die Opfer geworden.

Sie fordern keine Verschärfung des Strafrechtes?

Rüster: Es ist wichtiges Ziel des Weißen Ringes, Straftaten vorzubeugen. Wenn der gesetzliche Rahmen ausgeschöpft wird, wenn der Vollzug mit allen Sicherheitsaspekten funktioniert, dann ist das ein Beitrag zur Prävention. Wir fordern keine Verschärfung des Strafrechts. Die Gesetze sind ausreichend, nur müssen die Gerichte die Gesetze im Sinne der Opfer konsequenter anwenden. Der Ermessensspielraum der Richter ist viel größer, als sie öffentlich weis machen wollen.

Warum ist die öffentliche Sicht noch so stark auf den Täter konzentriert?

Rüster: Eben da besteht eine Denkblockade. Es geht nicht vorrangig um die Situation des Opfers, sondern um die Gründe, die Befindlichkeit, das soziale Umfeld des Täters. Das Opfer aber gehört in den Mittelpunkt der Strafrechtspflege.Wenn sich dieses Denken durchsetzt, dann wird sich auch das Rechtsdenken entsprechend entwickeln. Der Staat hat die Verpflichtung, seine Bürger vor kriminellen Übergriffen zu schützen. Wenn er dieser Verantwortung nicht vollkommen gerecht werden kann, dann muß er wenigstens alles tun, um die Folgen für das Opfer so erträglich wie möglich zu gestalten.

Täuscht der Eindruck, daß die Politik erst dann reagiert, wenn der Druck der Öffentlichkeit zu groß wird?

Rüster: Mittlerweile sind die Parteien sich im Prinzip des Opferschutzes einig; es bestehen noch Differenzen über die Wege. Wenn viele Opfer unzufrieden mit dem Staat sind, sich alleingelassen fühlen, besteht Gefahr für den Rechtsfrieden. Immer mehr Bürger sind verbittert, wie hilflos die Politik den häufigen Pannen im Justizapparat gegenübersteht. Angesichts der seit Jahren deutlichen Steigerungsraten bei der Gewaltkriminalität ist es ein Hohn, wenn Verbrecher auf freien Fuß gesetzt werden, weil die Anklageschrift nicht rechtzeitig erstellt werden kann.

Das Augenmerk des Weißen Ringes gilt vor allem den Opfern. Was haben Sie da erreicht?

Rüster: Unser Hauptanliegen ist der Opferschutzgedanke. Der Weiße Ring hat immer gefordert, die Persönlichkeitsrechte der Opfer im strafrechtlichen Bereich, etwa wenn sie als Opferzeugen auftreten müssen, viel stärker zu schützen. Auch hier sind wir vorangekommen. Zwingend vorgeschrieben ist die Beiordnung eines anwaltlichen Zeugenbeistandes, wenn ein Verbrechen, ein Sexualdelikt, die Mißhandlung eines Schutzbefohlenen oder Bandenkriminalität Gegenstand des Strafverfahrens ist. Damit wurde eine Lücke im Jugendgerichtsverfahren geschlossen. Neu ist auch die Beiordnung eines anwaltlichen Zeugenbeistandes auf Staatskosten während der Vernehmung.

Und der Opferanwalt?

Rüster: Eine unserer Forderungen ist mit dem Zeugenschutzgesetz vom 5. März wenigstens teilweise verwirklicht: der Opferanwalt auf Staatskosten. Opfer haben das Anrecht auf einen Pflichtanwalt im Rahmen der Nebenklage, wie es seit langem möglich ist für Pflichtverteidiger des Täters. Leider bezieht sich die Regelung bisher nur auf Sexualstraftaten und versuchte Tötungsdelikte. Hier muß nachgebessert werden, um den Schutz anderer schwer betroffener Opferzeugen zu garantieren.

Wie stehen Sie zur Videovernehmung?

Rüster: Sie erhöht den Schutz der Persönlichkeitsrechte jugendlicher Opferzeugen beträchtlich. Die Videotechnik war in deutschen Gerichtssälen ein Fremdwort, bis durch das Mainzer Modell bei den Wormser Kinderschändungsprozessen ein Präzedenzfall geschaffen worden ist. Damals haben mutige Richter diese Methode angewandt, obwohl es keine gesetzliche Grundlage gab. Jetzt ist es möglich, die Vernehmung eines Opferzeugen in einem gesonderten Raum durchzuführen und sie per Videotechnik in den Gerichtssaal zu übertragen. Neu ist auch die Videoaufnahme bei der ersten richterlichen Vernehmung, die meist früh nach der Tat stattfindet. Die Aufnahme kann dann bei der Verhandlung vorgespielt werden. Das Opfer muß also nicht mehrmals seine Geschichte erzählen.

Wie lauten Ihre dringendsten Forderungen an Politik und Justiz hinsichtlich der Betreuung der Opfer?

Rüster: Wir fordern einen "Opferschutzpool": Justiz, Polizei, Versorgungsämter müssen besser zusammenarbeiten. Es kann nicht sein, daß ein Opfer, das alle sein Rechte und Ansprüche wahrnehmen will, von Pontius zu Pilatus laufen muß. Wir fordern die Verpflichtung staatlicher Stellen, die Opfer auf ihre Ansprüche und Rechte aufmerksam zu machen.

Ein Urteil bietet dem Opfer in der Regel eine Genugtuung. Wie sieht es mit der finanziellen Wiedergutmachung aus?

Rüster: Durch das strafrechtliche Urteil sind seine Schadensersatzansprüche, seine Schmerzensgeldansprüche nach wie vor nicht geregelt. Das Gericht verweist auf den Privatklageweg. Also muß das Opfer erneut einen Prozeß anstrengen, um seine Ansprüche gegen den Täter durchzusetzen. Das ist unzumutbar, gerade wenn man bedenkt, was dem Täter alles abgenommen wird.

Sie fordern auch die häufigere Anwendung des Adhäsionsverfahrens?

Rüster: Ja, denn dieses ermöglicht, im Strafverfahren zugleich die zivilrechtlichen Ansprüche des Opfers zu entscheiden. Dem Opfer wird nur ein Prozeß zugemutet, und es hätte eher Zugriff auf eventuell vorhandenes Vermögen des Täters. So aber bedient sich zuerst der Staat, um Gerichtskosten und ähnliches zu begleichen. Wir werden dafür kämpfen, daß die Ansprüche des Opfers Vorrang vor staatlichen Forderungen gegenüber dem Täter haben. Peter Krause


 
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