© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/98 03. April 1998

 
 
Kulturelle Hegemonie
von Bernhard Dumont

 

In ihrem Anspruch, eine wissenschaftlich begründete Lehre zu sein, ist es der marxistischen Linken oft genug gelungen, ihre Gegner zu beeindrucken. Bisweilen haben dann die Gegner dieser Linken versucht, statt selbst eine eigene Handlungstheorie zu entwerfen, ein solches Reservoir an Ideen und Methoden wiederum im Marxismus zu finden, die ihnen, vom Kopf auf den Fuß gestellt, versprachen, ihre Ziele möglichst wirkungsvoll zu erreichen. In diesen Zusammenhang gehört auch die regelmäßig wiederkehrende Theorie eines „Gramscismus von Rechts", das heißt die Erringung einer „kulturellen Hegemonie" von Rechts als Voraussetzung für die Erlangung politischer Macht.

Das hauptsächliche Prinzip des Gramscismus ist das des Stellungskrieges, das der italienische Kommunist Antonio Gramsci merkwürdigerweise von Karl Kautsky (von Lenin verächtlich „Renegat" genannt) entlehnt, der seine „Ermattungsstrategie" der „Niederwerfungsstrategie" Rosa Luxemburgs gegenübergestellt hatte. Denn, so Gramsci, gegen das bourgeoise System, dessen Kraft auf der Zustimmung der Zivilgesellschaft beruht, die in ihm zumindest teilweise ein das Gemeinwohl sichernde Regierungssystem sieht, wäre es nicht klug, durch unüberlegte Aktionen – etwa Revolutionen – überstürzt zu handeln. Vielmehr sei eine langangelegte und umfassende Propagandakampagne zu führen, die schwerpunktmäßig auf Intellektuelle ausgerichtet ist, um bei diesen den Zweifel hinsichtlich der Daseinsberechtigung der bestehenden Ordnung zu nähren und ihnen gleichzeitig die Grundgedanken einer neuen hegemonial werdenden Kultur einzupflanzen. Der Gramscismus versucht folglich, die gesellschaftlichen Eliten aller Ebenen, die die bestehende Kultur stützen, zu verunsichern und zu destabilisieren, indem sie ihre Moral erschüttert und so die strukturellen Verbote der Gesellschaft ins Wanken bringt.

Die daraus folgende Frage nach der politischen Revolution (d.h. dem Staatsstreich) wird nicht abstrakt negiert, sondern verliert in der Praxis ihren Sinn in dem Maße, wie in dieser neuen Kultur aller Messianismus verfällt und folglich eine radikale Entpolitisierung des Staatsapparates stattfindet, der zum Instrument einer Zivilgesellschaft wird, die auf einen rein materiellen Horizont begrenzt wird. Der Gramscismus ist eine Strategie des „Übergangs", die eigenartig an das erinnert, was die amerikanische psycho-soziologische Schule „sozialer Wandel" genannt hat.

Der oben genannte „Stellungskrieg" besteht nun darin, das zu zerstören, was von „bürgerlichen Vorurteilen", etwa dem Patriotismus oder dem Respekt innerhalb der Familie, noch übriggeblieben ist. Ziel ist es, ein Klima des schlechten Gewissens bezüglich der Vergangenheit zu erzeugen (die Herrschaft auf dem Gebiet der Geschichte ist hier entscheidend), die Individuen von jeder Unterordnung in eine traditionelle Ordnung zu lösen, den praktischen Atheismus zu einem allgemeinen Phänomen zu machen. Anders ausgedrückt: er besteht darin, einen Prozeß der kulturellen Subversion in Gang zu bringen, nach dem Vorbild – aber doch weit darüber hinaus – der Untergrabungstätigkeit der französischen Enzyklopädisten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Man erwartet, daß einem bei einer derart langfristigen Vorbereitung die Macht einmal wie eine reife Frucht in die Hände fallen müsse, oder, was auf das gleiche hinausläuft, daß die Macht, soweit sie politische Macht ist, sich selbst abschafft. Aber man geht auf eine versteckte Art und Weise vor, indem man unmittelbar auf die soziale Gesamtheit, die „Zivilgesellschaft" abhebt. Wenn es übrigens dem Marxismus auf diese Weise gelungen wäre, die von ihm angestrebte kulturelle Hegemonie zu erlangen, wäre es ihm nicht – wenigstens nicht direkt – gelungen, die politische Macht zu erobern. Aber alles ist im Gegenteil so verlaufen, als ob man die ganze Zeit für den radikalsten Flügel des globalistischen Kapitalismus gearbeitet hätte. Das kann nicht erstaunen, weil es eine Kongruenz gibt zwischen den kulturellen Zielen des Gramscismus und denen des globalistischen Kapitalismus: die Abschaffung der Grenzen, die Aufhebung der angeblichen Entfremdung des Individuums, das gedrängt wird, sich von jedem geistigen Band abzuwenden, um allein der Materie zu dienen.

Und nicht nur fällt die Macht nicht in die Hände der Kommunistischen Partei, sondern die Auflösung der Politik, zu der eine immer schneller werdende Entwicklung zur Komplexität des globalen Marktes kommt, läßt einen zunehmenden Verfall des Staates erahnen, der einfach übernommen wird, ohne die kostspielige Phase der Diktatur des Proletariats durchlaufen zu müssen. Der Gramscismus kann folglich, wie dies der italienische Philosoph Augusto Del Noce (Il cattolico comunista, Mailand 1981) getan hat, für eine Strategie der sozialen Verrottung gehalten werden, der auf das wirkungsvollste den radikal-globalistischen Liberalismus vorangetrieben hat.

Aber ist es nicht doch möglich, an der Methode der kulturellen Hegemonie Gramscis festzuhalten und gleichzeitig auf die Ideologie zu verzichten? Diese Art der Frage ist nicht neu – die Befreiungstheologie etwa ist aus einem Versuch hervorgegangen, den Marxismus als wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Widersprüche vom Marxismus als Strategie des Atheismus loszulösen. Aber es ist müßig anzunehmen, man könne Elemente voneinander trennen, die nun einmal nur zusammen einen Sinn ergeben. Deshalb ist die Idee eines „Gramscismus von Rechts" nicht konsequent zu Ende gedacht. Es wäre in der Tat eine schlechte Analyse des Gramscismus, wenn man ihn als eine umgekehrte Form von „intellektueller und moralischer Reform" (Ernest Renan) wiederaufleben ließe oder, mehr noch, als eine einzige Arbeit des zivilen Ungehorsams, der einer faktischen Macht gilt, wie es etwa Solidarnosc im Polen des Generals Jaruzelski getan hat. Es wäre besser, exakt im Gebrauch der Worte zu sein und sich von einer – wenn auch nur verbalen – Kultivierung eines Idols der sozialen Subversion fernzuhalten, zumal, wenn man selbst öffentlich bekundet, man wolle eine Gesellschaft eher wiederherstellen, als sie zugrundezurichten. Oder aber man meint das Face-lifting von irgendetwas anderem als dem Gramscismus, nämlich den „Kampf der Ideen". Dabei handelt es sich aber in keiner Weise um Gramscismus, umso weniger als dieser bei seiner Verwirklichung die Unterstützung einer Armee von Berufsrevolutionären voraussetzt, die in der Lage sind, Schlüsselpositionen zu erobern und die untereinander durch eine kollektive Disziplin verbunden sind.

Die Hypothese ist noch unrealistischer, wenn man die reale Situation der Kultur berücksichtigt, die vollkommen dominiert ist von den Erfordernissen der späten Moderne und die in ihrem Ganzen getragen ist von adäquaten Strukturen und einer engen Verbindung zu Staatsapparat, Medien und Markt und nicht zuletzt auch zu den Kirchen. Sich vorzustellen, daß es einen „Gramscismus gegen den Strom"geben könne, das wäre so, als ob man davon träumt, daß der Topf aus Ton den Topf aus Eisen auf seinem eigenen Gebiet besiegen könnte.

Wenn der Homo sovieticus über Jahrzehnte durch den Kommunismus deformiert worden ist, so gilt das gleiche für den Homo occidentalis, der der gramscistischen und/oder der liberalen Dekonstruktion unterworfen wurde. Man kann schließlich nicht in Begriffen von „Nation" und „Volk" denken, als ob diese einen ewigen Sinn behüteten. Die Nation, das ist eine Gemeinschaft, das ist das Ergebnis eines Reifungsprozesses, das ist eine Wirklichkeit, die von einer gemeinsamen Geschichte geschmiedet worden ist, durch Genies, durch Heilige, durch Helden, die ihre Spur hinterlassen haben. Nichts davon kann wirklich überleben in einer rein politischen Gesellschaft, einem Werk von Vernunft, Recht und Pietät.

Im Gegensatz zum angeblichen „Gramscismus von Rechts", der davon träumt, die manipulative Macht der Medien extra-politisch (eher als metapolitisch) zu erobern, der die Politik umschlängeln will, wäre es besser, eines Tages das möglich zu machen, was politisch notwendig ist. Aber hier hält man sich lieber mit unpassenden Illusionen auf. In dem Stadium der Auflösung, in dem sich der Westen zur Zeit befindet, kann es sich nur darum handeln, langfristige Grundlagen- und Bildungsarbeit zu leisten. Die gegenwärtigen Bedingungen erlauben es nicht, das Ende dieser Frist vorherzusagen. Aber jedenfalls – und das ist nicht der unwichtigste Aspekt des inneren Widerstands gegen die allgemeine Demoralisierung – ist es sicher, daß diese Bedingungen sich ändern werden, und sei es nur aus dem Grunde weil sich der Prozeß der Moderne seinem unvermeidlichen Ende nähert. Die in ihr Spätstadium eingetretene Moderne erscheint zwar radikalisiert, ist aber voller grundlegender Widersprüche. Wie sehr wäre es notwendig, den entscheidenden Zeitpunkt, den Kairos zu kennen! Unter der Voraussetzung freilich, dafür bereit zu sein.

Die Einheit wird allenthalben gefordert. Aber die Einheit ist die Verschwörung der Gewissensfreiheiten zu einem einzigen Ziel. Man sieht nicht, wie die Frage der Organisation prinzipiell erledigt werden könnte, als ob es genügen würde, ein paar Ideen in die Luft zu werfen, um sich automatisch einer Einheit ohne Hierarchie erfreuen zu können. Aber man kann auch nicht sagen, daß es genüge, eine Organisation ins Leben zu rufen: die formelle Einheit ist künstlich, wenn sie nicht unterstützt wird von einer Verbindung durch die Vernunft, wenn jene, die diese Einheit bilden, nur von äußeren Reizen angetrieben werden. Die Einheit darf sich so sehr um ein Programm bilden, sondern vielmehr um Grundsätze. Die gegenwärtige Situation erinnert an diejenige, die Alasdair Mac Intyre in seinem Buch beschreibt („Der Verlust der Tugend – Zur moralischen Krise der Gegenwart", Frankfurt/M. 1995): alles wurde verloren in der Folge einer beispiellosen Katastrophe, und es ist notwendig, alles wiederherzustellen – Stück für Stück. Es handelt sich darum, die intellektuelle Einheit wieder aufzubauen durch eine Erforschung dessen, was verloren ist. In der Tat setzt das voraus, daß dafür Mittel und Räumlichkeiten zur Verfügung stehen.

Man sollte endlich das Theoretisieren am Grünen Tisch über Gramscismus und Anti-Gramscismus beenden – nicht so sehr, um sich selbst auf dem Markt der Ideen einzubringen, was eine Anlehnung an den allgegenwärtigen Relativismus voraussetzte, sondern um die Voraussetzungen einer Debatte zu eröffnen, die den Weg der Grundwahrheiten findet und wiederfindet. Seien wir realistisch. Fordern wir das Mögliche ! Bevor man großartige Ambitionen hegt, eine bedeutende Rolle innerhalb der Gesellschaft zu spielen, sollte man sich lieber mit diesem intellektuellen und moralischen Ausgangspunkt aller Einheit beschäftigen.

Ein moralisches Hindernis muß hier allerdings beseitigt werden. Es muß gelingen, das Dogma des Historizismus zubrechen. Die moderne Welt ist keine Notwendigkeit, sondern ein Postulat: es gibt auch noch andere Möglichkeiten des Denkens. Das, was heute als ewiggültig erscheint, ist nicht endgültig. Dieser angebliche Determinismus ist in der Tat eine Propagandawaffe der Naturphilosophie, die es der spätmodernen Welt erlaubt, sich als Ergebnis und Krönung der Weltgeschichte darzustellen. Nun, die Lektion, die man aus dem Fall des kommunistischen Systems lernen kann, zeigt zumindest, daß der Mensch denkt und Gott lenkt.


 
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