© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/98 03. April 1998

 
 
Wahlgeographisches West-Ost-Gefälle: Erfolg der Linken verstärkt Spaltungstendenzen
Kommunistische Zerreißprobe
von Martin Schmidt

Fruchtbare Böden" und eine „blühende Schwerindustrie" – das seien nur zwei irreführende Stichworte, die bis heute das westliche Bild der Ukraine prägen. Nur allzu berechtigt ist diese Kritik des im Februar zum Prorektor der Ukrainischen Freien Universität in München gewählten Prof. Frank E. Sysyn von der University of Alberta an den gängigen Vorstellungen, die in mittel- und westeuropäischen Ländern sowie in Nordamerika über den mit 603.700 Quadratkilometer zweitgrößten Staat Europas kursieren.

Nach dem Umbruch im Osten seien bis 1993 zwar viele der zu etwa 80% aus Galizien stammenden ukrainischen Emigranten aus den USA und Kanada in ihre Herkunftsorte heimgekehrt und hätten so die Verbindungen über den Atlantik intensiviert, doch nicht wenige von diesen sind mittlerweile völlig enttäuscht nach Amerika zurückgezogen. Was bleibt, ist vor allem die Wertschätzung Washingtons für die Ukraine als „strategischer Partner". Vor diesem Hintergrund fließen gewaltige Dollar-Summen nach Kiew. Zuletzt hat dieser Zustrom bewirkt, daß die ukrainisch-russischen Pläne für die Lieferung von Nuklearturbinen an den Iran „hinweggespült" wurden. Rußland hat dieser Macht des amerikanischen Geldes wenig entgegenzusetzen, auch wenn der Einfluß Moskaus im westlichen Nachbarland aus historischen, ethnischen (22,1% der 52 Millionen Einwohner sind Russen) und ökonomischen Gründen (Abhängigkeit von Öl und Gas) nicht vernachlässigt werden kann.

In Deutschland sieht es trotz der relativen Nähe mit dem Interesse für die Ukraine kaum besser aus als in Amerika: Die große Aufmerksamkeit und Sympathie, die die Ukrainer dem deutschen Volk sowie der deutschen Kultur entgegenbringen, findet keine Entsprechung. Die momentane Aufmerksamkeit für das Ergebnis der Parlamentswahlen vom letzten Sonntag reicht natürlich nicht aus, um in den Köpfen einer größeren Zahl von Menschen den großen weißen Fleck „am Rande" (‚Ukraine‘ bedeutet: am Rand liegend/Grenzland) der Landkarte Europas mit Bildern und Faktenwissen zu füllen. Auch in diesem Fall bedarf es in einer Zeit, in der es um das Allgemeinwissen der Bevölkerung zunehmend schlechter bestellt ist, wohl massiver bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen und schockierender Fersehbilder, um ein breiteres Interesse zu wecken. – Mit dem guten Abschneiden der Kommunisten bei der ukrainischen Wahl sind solche düsteren Aussichten auch durchaus ein Stück näher gerückt.

Nach Hochrechnungen der Zentralen Wahlkommission vom Montag errangen die Kommunisten (KPU) bei einer Wahlbeteiligung von 69,64% (Westukraine: 80%) mindestens ein Viertel der 450 Parlamentssitze. Die eindeutigen Hochburgen dieser sowjetnostalgischen Partei liegen in der Hauptstadt Kiew sowie im stark russifizierten und industrialisierten Osten des Landes (gemäß Hochrechnung erzielte die KPU beispielsweise im Gebiet Donezk 45% und auf der Krim 60%). In der Westukraine mit den mitteleuropäisch anmutenden Zentren Lemberg und Czernowitz bestimmen dagegen nach wie vor jene Parteien die politische Landschaft, die in der Zerfallsperiode der UdSSR der Idee der ukrainischen Eigenstaatlichkeit 1991 umsetzten: nämlich die in der Volksbewegung „Ruch" vereinten national-konservativen Kräfte. Diesmal konnte die in den letzten Jahren deutlich schwächer gewordene Ruch unter ihrem Vorsitzenden Wjatscheslaw Tschornowil – einem früheren Dissidenten – Umfragen zufolge 11% der Stimmen erringen. Außerdem schaffte u. a. die rechte Nationale Front den Sprung über die Vier-Prozent-Hürde in den Kiewer Werchowna Rada.

Während die KPU als mit Abstand mitgliederstärkste der insgesamt 30 angetretenen Parteien vor allem mit dem Widerstand gegen Privatisierungen Stimmung macht und besonders bei den Industriearbeitern, Bauern und Rentnern ankommt, treten die nationalorientierten Rechtsparteien für eine umfassende Privatisierung der Kleinbetriebe, für die Unterstützung des Unternehmertums sowie das Privateigentum an Grund und Boden ein. Mit dieser, auch vom historische Erbe der Zugehörigkeit der Westukraine zu Österreich bzw. Polen geprägten Programmatik kommen sie jedoch an die Wähler in den von den Folgen des Sowjetsystems zutiefst erschütterten östlichen Regionen einfach nicht heran. In diesen Gebieten blieben die Bemühungen um einen wirtschaftlichen Neubeginn nicht zuletzt deshalb weitgehend erfolglos, weil dort (die Westukraine gehörte noch bis 1939 zu Polen) die Eliten von Stalin so gründlich dezimiert wurden wie wohl in keinem anderen Teil der UdSSR.

Das gestiegene politische Gewicht der gut organisierten Kommunisten, das auch auf das erstmals angewendete neue gemischte Wahlrecht anstelle des vorher allein gültigen Mehrheitswahlrechts zurückgeht, wird die Zentrifugalkräfte in der Ukraine noch weiter verstärken. Damit geht eine zunehmend engere Anlehnung der Ost-Ukraine an Rußland einher, an deren Ende sehr wohl eine staatliche Neuordnung stehen könnte. Der seit 1994 amtierende Präsident Leonid Kutschma, der dank der vor zwei Jahren nach französischem Vorbild eingeführten Präsidialdemokratie eine mächtige Stellung innehat, wird nach Kräften gegensteuern. Er kann dabei auf die massive Unterstützung durch die USA und die EU zählen, aber ob diese ausreicht, den breiten Graben zu überbrücken, der die Ukraine zerschneidet, ist höchst fraglich. Daß Kutschma und den Kräften der politischen Mitte sowie der Rechten nun ein eisiger Wind aus dem Osten entgegenwehen wird, deutete am Montag Kommunistenchef Symonenko an. Er forderte eine Verfassungsänderung mit dem Ziel, die Regierung in Zukunft durch das Parlament statt durch das Staatsoberhaupt bestimmen zu lassen. Das Präsidentenamt solle sowieso ganz beseitigt werden, schloß Symonenko seine Kampfansage.


 
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