© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   15/98 03. April 1998

 
 
Sachsen: Stasi-belastete Abgeordnete bangen um ihre Macht
Symbolische Bedeutung
von Paul Leonhard

Kann einem frei gewählten Abgeordneten das Mandat entzogen
werden, weil dieser einst für die DDR-Staatssicherheit gespitzelt hat? So lautete die Gretchenfrage, die nicht nur den Sächsischen Landtag Ende März vor eine Zerreißprobe stellte, sondern nun auch die Verfassungsrichter in Leipzig beschäftigen wird. Noch basteln allerdings die Dresdner Landtagsjuristen an der Klageschrift. Sie stützen sich dabei auf den in deutschen Länderverfassungen einmaligen und auch in Sachsen nicht unumstrittenen Artikel 118 der Sächsischen Verfassung. Danach ist ein Abgeordneter „untragbar", wenn er unter dem dringenden Verdacht steht, für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR gearbeitet oder gegen die „Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit" verstoßen zu haben. Mit Zweidrittelmehrheit kann dann der Landtag gegen den Betroffenen vor dem Landesverfassungsgericht auf Mandatsenthebung klagen.

 

Das ist nun in den Fällen der PDS-Abgeordneten Klaus Bartl, Sieghard Kosel und Jürgen Dürrschmidt geschehen. Die Parlamentsmehrheit ist damit der Empfehlung des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunitätsangelegenheiten gefolgt. Dieser war nach zahlreichen Anhörungen und Aktenstudium zu der Überzeugung gelangt, daß es sich bei Kosel und Dürrschmidt um „aktive Unterstützer des totalitären SED-Zwangregimes" handelt. Dem Chemnitzer Rechtsanwalt Bartl wurde nicht nur seine Spitzeltätigkeit im Grenzgebiet zur damaligen CSSR vorgeworfen, sondern vor allem seine früheren Aktivitäten als Abteilungsleiter Staat und Recht der SED-Bezirksleiter Karl-Marx-Stadt. In dieser Funktion hat Bartl Aktionen der Staatssicherheit gegen aufmüpfige Bürger selbst eingeleitet.

Bereits mehrmals hatte der Landtag in den vergangenen Jahren einigen seiner Mitgliedern wegen Tätigkeit für die Staatssicherheit den Rücktritt nahegelegt. Stets waren den Empfehlungen auf eine freiwillige Mandatrückgabe Anhörungen und sorgfältige Einzelfallprüfungen vorausgegangen. Mit mehr oder weniger großem Medienecho hatten so Parlamentarier der FDP und der CDU, darunter auch ein Stellvertretender Ministerpräsident, ihr Mandat zurückgegeben. Nur die Fraktion der SED-Nachfolgepartei stellte sich schützend von ihre Mitglieder und nominierte drei der Betroffenen sogar für die Landesliste.

Regierungschef Biedenkopf blieb der Abstimmung fern

Auf diese Weise zogen Klaus Bartl, Jürgen Dürrschmidt und Sieghard Kosel 1994 erneut in den Landtag ein und gerieten damit in Konflikt mit Artikel 118 der Sächsischen Verfassung.

Dieser soll gerade verhindern, daß ehemalige Stasi-Täter erneut an der Gesetzgebung beteiligt sind. Ein Abgeordneter sei nicht nur ein kleines Rädchen im Staatsgetriebe, sondern neben seiner Tätigkeit als Gesetzgeber auch Teil eines überwachenden Organs, erinnerte Peter Adler, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Ehemalige Mielke-Spitzel als Volksvertreter im Parlament hält Landtagspräsident Erich Iltgen (CDU) mit Blick auf die Opfer des SED-Regimes für „nicht zumutbar" – eine Ansicht, der in der entscheidenden, stimmungsgeladenen Sitzung letztlich 88 Parlamentarier folgten. Sie stimmten für die Abgeordnetenanklage, 20 ihrer Kollegen dagegen. Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) sowie einige seiner Kabinettskollegen blieben der Abstimmung fern.

SPD bietet Bild der inneren Zerrissenheit

Vertreter aller drei im Landtag vertretenen Fraktionen sowie die Betroffenen selbst meldeten sich vor der Abstimmung zu Wort und ließen die Zuhörer tief ihre Biographien blicken. An ein befreundetes Pfarrers-Ehepaar, das ohne rechtliche Grundlage im DDR-Knast verschwand, erinnerte beispielsweise CDU-Fraktionschef Fritz Hähle, während der Leipziger Historiker Werner Bramke (PDS) von einem IMS erzählte, der sich einst schützend vor ihn gestellt hatte.

Ein bezeichnendes Bild von der inneren Zerrissenheit der SPD beim Umgang mit der SED-Nachfolgepartei lieferten die Sozialdemokraten Barbara Ludwig und Thomas Mädler. Beide erklärten, der Abgeordnetenanklage nicht zustimmen zu können. Das vorliegende Belastungsmaterial sei „mehr als dürftig", sagte der Leipziger Mädler. Angesichts der Schuldlage könne er mit „diesen drei Kollegen im Landtag zusammenarbeiten". Überdies zeigte sich Mädler von der „glänzenden Verteidigungsrede" Bartls beeindruckt.

Dem war es gelungen, nicht nur den brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) für seine Ziele einzuspannen, sondern auch dem sächsischen Innenministerium die Zahl der in seinem Bereich tätigen früheren offiziellen und inoffiziellen Stasi-Bediensteten um die Ohren zu hauen. So wurden allein während der Amtszeit des sich in der Öffentlichkeit als Opfer der DDR-Diktatur darstellenden Innenministers Heinz Eggert (CDU) 362 Stasi-Spitzel und 161 hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter als Bedienstete und Beamte eingestellt. Davon kamen 90 aus der Hauptabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin. Unter diesen befanden sich sogar vier Mitarbeiter der persönlichen Arbeitsgruppe von Erich Mielke und 74 aus der Postkontrolle. Weiterhin wurden 19 Leiter von Volkspolizeikreisämtern verbeamtet und 351 Mitarbeiter der für die Stasi konspirativ arbeitenden Abteilung K1 der Kriminalpolizei übernommen. Er habe gegen keine einzige dieser Vorverbeamtungen Einwände, sagte Bartl. Aber er verstehe nicht, wie einerseits im Kernbereich der Biedenkopf-Regierung derartige Leute Lohn und Brot finden, während im Landtag Abgeordnete der Opposition „unter Verweis auf in analogen Lebenssachverhalten begangene Handlungen aus dem Mandat" gejagt werden sollen.

PDS-Abgeordneter legt Schreiben von Stolpe vor

Gleichzeitig präsentierte Bartl ein an ihn gerichtetes Schreiben Stolpes vom Vortag, in dem dieser betonte, daß nur ein „differenzierter Umgang mit Biographien den jeweils besonderen Gegebenheiten gerecht" werde. Stolpe hatte seinem Brief den Beschluß des Landtages Brandenburg vom 16. Juni 1994 beigefügt, den „ich vollinhaltlich mittrage". Darin wird vor einer nur selektiven Kenntnisnahme von Lebensläufen und Lebensleistungen sowie ihrer Bewertung unter dem Gesichtspunkt heutiger politischer Opportunitäten gewarnt.

Genau das ist aber in allen drei Fällen geschehen. Dürrschmidt hat von 1977 bis 1981 als hauptamtlicher FDJ-Funktionär an der Technischen Universität für die Stasi gespitzelt, laut Akte „hochwertige Personenhinweise und Situationsberichte" geliefert und sich durch „Aufgeschlossenheit, Ehrlichkeit, Verschwiegenheit und Zuverlässigkeit" ausgezeichnet. Als Chefredakteur der sorbischsprachigen Zeitung Nowa doba half Kosel nach Stasi-Einschätzung 18 Jahre lang „bei der Niederhaltung politisch abweichender Strömungen in der Redaktion".

Abgeordnete können ein Mandat nicht aberkennen

Die PDS sieht darin nichts Anstößiges. Im übrigen seien alle drei trotz (oder gerade wegen) ihrer Arbeit für die Staatssicherheit in den Landtag gewählt worden. Von einem „schwerwiegenden Eingriff in das freie Mandat sowie in das passive Wahlrecht" sprach Andre Hahn, Parlamentarischer Geschäftsführer der PDS-Fraktion.

Tatsächlich können die Abgeordneten aber niemandem ein Mandat aberkennen. Die Parlamentsmehrheit hat lediglich ein Verfahren in Gang gesetzt, in dem jetzt unabhängige Richter eine Güterabwägung zwischen der Wahrnehmung des freien Mandats und der Einschränkung nach Artikel 118 zu treffen haben und dessen Ausgang höchst ungewiß ist. „Wir werden ein böses Erwachen vor dem Verfassungsgerichtshof erleben", orakelte Thomas Mädler. Für Werner Bramke dagegen ist „der Landtag nach dieser Abstimmung ein anderer". Gelassener blickt Justizminister Steffen Heitmann (CDU) dem Urteil entgegen: „Die symbolische Bedeutung ist das Wichtigste." Das sieht auch der Präsident des Sächsischen Verfassungsgerichts, Thomas Pfeiffer, so. Die Absicht der Verfassungsväter imponiere ihm: „Das ist ein klares Bekenntnis für einen Neuanfang."


 
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