© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/98 10. April 1998

 
 
Herrschaft oder Opfer
von Friedrich Romig

Seit der Aufklärung, mindestens jedoch seit Karl Marx, gehört es zum feststehenden, augenscheinlich unverrückbaren Vorurteil, Herrschaft mit Unterdrückung, Ausbeutung und Unfreiheit gleichzusetzen. Zu jenen, die gegen dieses Vorurteil anzukämpfen versucht haben, gehört wohl an vorderster Stelle der Goethepreisträger Leopold Ziegler (1881–1959), "der Weise vom Bodensee". In seinen zahlreichen Büchern gelingt es ihm, dieses Vorurteil Schicht um Schicht abzutragen und unser, unter der Aufklärung zugedecktes, natürliches Bewußtsein wieder freizulegen, so daß es den Befunden folgen kann, die uns Kulturanthropologie und Völkerkunde vorlegen und die in der Aussage gipfeln: Nicht Herrschaft und Ausbeutung, sondern Herrschaft und Opfer sind komplementäre Begriffe und das zentrale Thema aller sozialer Fragen, hängt doch der Zustand oder "status" eines sozialen Gebildes, das Gedeihen und der "Wohl-Stand" einer Gemeinschaft, des Volkes oder Staates davon ab, ob jene die Lebenskraft der von ihnen geführten Gemeinschaft erhält oder erhöht.

Die Methode (griechisch "methodos" = Wegweisung), die Ziegler anwendet, ist einfühlsame und behutsame Pädagogik des Wiedererlernens, so als müßte er uns Heutige eine vergessene Sprache lehren, die den Altvordern noch geläufig war. Ziegler unterscheidet auf dem Weg, den er uns führt, mehrere Bewußtseinsstufen, die in jedem Menschen und in jeder Kultur, wenn auch im Laufe ihrer Geschichte noch so verschüttet, verbogen und verbildet, vorhanden sind: so die magische, die mythische, die soziale, die philosophische und die religiöse Bewußtseinsstufe, auf denen Herrschaft und Opfer eine je verschiedene und doch auch wiederum verwandte Bedeutung haben.

Magie des Opfers. – Der urtümliche Mensch, der Frühmensch, der von uns heute vielfach beneidete "Primitive" versteht und begreift seine Umwelt, die ihn umgebende Natur mit allen ihren Erscheinungen – Sonne, Regen, Blitz und Donner, Wasserflut und Trockenheit – als von Urhebern, Urtätern und Urvätern abhängig. Er versucht sich mit ihnen gutzustellen, ihren Zorn zu vermeiden oder zu besänftigen.

Sein ganzes Leben spannt der Frühmensch in ein dichtmaschiges Netz ritueller Vorschriften ein. Er unternimmt nichts, baut kein Haus, schlägt keinen Baum, jagt kein Tier, pflügt keine Furche, nimmt keinen Weinberg in Pflege, bevor er nicht sorgsam erkundet hat, in welcher Menge, Stimmung und Gesinnung die Mächte zugegen sind, die freundlich-feindlichen Gewalten, die den Erfolg gewähren oder vereiteln, den Segen spenden oder verweigern können.

Der Mensch lernt früh schon begreifen, daß nicht jedes Opfer den Mächten genehm, nicht jeder Ort geeignet, nicht jede Zeit die rechte ist, um das Opfer darzubringen. Jeder Ort und jede Zeit ist den Göttern zugeordnet, finden ihren festen Platz im Raum und im Kalender, im Ritus und Kult, die das frühmenschliche Leben durchwalten und durchpulsen. Keine Daseinsäußerung ist zu unbedeutend, daß sie nicht in Gebote eingezwängt oder durch Verbote eingeschränkt wäre.

Selbst die Schwächen, die mit zunehmendem Alter ganz natürlich verbunden sind, sind bedrohlich. Zeigen sich darum bei ihm, dem Herrscher, die ersten Zeichen schwindender Kräfte, die ersten Schwächeanzeichen, dann wird es höchste Zeit, an seine Ablösung zu denken, denn wo immer die Herrscher siechen, kränkelt das Land. Damit auch die Ablösung des Herrschers möglichst zeremoniell geschehe, wird er, je nach der erreichten Staffel der Gesittung, unter festlicher Beteiligung lebendig begraben oder eingemauert, verbrannt, erdrosselt oder einfach nur erschlagen. Um keinen Preis soll der Herrscher an Krankheit oder Altersschwäche sterben, denn die körperliche Schwäche ist Ausdruck für die schwindende Lebenskraft der Seele. Nichts fürchtet der Frühmensch so sehr wie den Strohtod seines Herrschers, der eine schwache Seele, eine erschöpfte Kraft den Urhebern und Erben hinterläßt. Ungeheuer einfallsreich sind Völkerbrauch und Völkersitte, um sich vor diesem Unglück zu schützen.

In der südindischen Provinz Quilacare beispielsweise besteigt der Priesterkönig, nachdem er sich in zwölfjähriger Herrschaftsdauer – identisch mit der Umlaufzeit des Jupiter – einer buchstäblich göttlichen Verehrung erfreuen durfte, sein rituell erbautes Blutgerüst, wo er nach feierlichem Gebet vor dem ganzen Volke ein paar Messer nimmt und sich selbst erst die Nase, dann die Ohren, die Lippen, einzelne Glieder und so viel Fleisch vom Körper schneidet, wie er kann. Bevor er ohnmächtig wird, schneidet er sich mit dem letzten Schnitt die Kehle durch. Und wer wiederum zwölf Jahre zur Regierung auserwählt ist, muß anwesend sein, um hierbei zuzusehen. Und von dieser Stelle aus erheben sie ihn zum König. Frazer (The Golden Bough, 12 Bde. 1911–1915), dem wir diesen Bericht entnehmen, ist voll von solchen Geschichten über das Selbstopfer der Könige.

Sie alle deuten darauf hin, daß die Vormachtstellung des Herrschers in der frühmenschlichen Gesellschaft teuer erkauft wird durch die teils freiwillige, teils aufgezwungene Bereitschaft, die eigene Person hinzugeben für die Erhaltung der charismatischen Urheberkräfte der Umwelt, ja der Welt. Der Einzelne erhebt sich über Seinesgleichen nur insoweit, als er geeignet und bereit ist, für alle das rechte Opfer zu sein. Gesellschaftliche Stellung, herrscherliche Würde fußt ausschließlich auf der Bereitschaft, freilich auch auf der Eignung zur rituellen Darbringung der eigenen Person. Darauf und auf nichts anderem beruht das Charisma der Herrschaft und die innere Verbundenheit der Gruppe mit den Urhebermächten, ihr Zustand oder "status", ist es doch ausschließlich der Selbstopferer in Person, der zu Lebzeiten eine an sich nur lose verbundene Gemeinschaft zusammenhält und durch sein vollbringendes Sterben ihren Fortbestand sichert. Macht und Würde, Staat und herrschaft, sie beruhen auf ein und derselben prästabilisierenden Magie des Opfers: Herrschaft und Opfer, Gemeinschaft und Opfer, Gemeinschaft und Herrschaft bedingen und fordern sich im Bewußtsein der Gruppe als schlechthin komplementäre Institutionen. Wahre Macht und Würde, wahre Vergemeinschaftung der Stämme und Völker, Polis und Staat gibt es nur, wo die Inhaber und Träger der Herrschaft und Macht auch die Ur-Opferer, ja Ur-Opfer sind.

Noch deutlicher werden diese Zusammenhänge durch den Mythos, ist doch der Mythos der Völker vordringlich heilige Geschichte. Gleich, ob wir die heiligen Bücher der Christen, Inder, Perser oder Chinesen aufschlagen, die stehenden Merkmale sind immer dieselben. Da ist die Präexistenz des Heilsbringers im unvordenklich Ewigen, seine unbefleckte Empfängnis im Schoße der jungfräulichen Mutter und Gottgebärerin, häufig die Geliebte des eigenen Sohnes, dem sie sogar in die Unterwelt nachfolgt. Da ist die leibliche Vaterlosigkeit des Sohnes, die feierliche Vorankündigung seiner Geburt, die Aussetzung in einer Wiege, Kiste oder einem Korb, seine tückische Verfolgung seitens der herrschenden Gewalten des jeweiligen Gegenreiches, seine wunderbare Rettung, sein Sieg über den Chaos-Dämon oder den Versucher und schließlich als letzte Station der Schicksalsumschwung auf der Höhe des Lebens, die Auslieferung an die Widersacher, die Folterung oder "Bohrung" an das Marterholz mit dem Vollzug der stellvertretenden Selbstaufopferung. Anschließend dann die Toten- und Höllenfahrt, die Umgeburt und Auferstehung, der Amtsantritt der Weltherrschaft in dem Augenblick, da die Entgöttlichung der Völker vollendete Tatsache geworden und die Schöpfung sozusagen ihren hieratischen Nullpunkt erreicht hat.

Seine letzte Steigerung erfährt der Gedanke von Herrschaft und Opfer in der Person des Jesus von Nazareth, König der Juden, Stifter des Neuen Bundes. Mit Einsetzung und Vollzug des Abendmahles opfert Christus Blut und Leib auf mystische Weise am Vorabend seiner geschichtlichen Kreuzigung. Zugleich mit dem Vollzug dieser heiligen Handlung ist der neue Bund gestiftet. Indem sie das Fleisch des Herren "kauen" und das Blut des Herren trinken, werden die Apostel und ihre Nachfolger zu Gliedern des Leibes Christi. Der Leib wird zerbrochen und zerstückelt, damit er den Tischgenossen Christi gegeben werde: "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, ein einzelnes bleibt es" (Joh. 12, 24). Durch Hingabe vervielfältigt sich der Einzelne und wird den mehreren zur Spende. Mit dem Blute, das Er vergießt, verschwistert und macht zu Blutsverwandten alle, die Sein Blut trinken. Das genossene Brot, der getrunkene Wein ist Vereinigung mit dem Gott selbst, mit des Gottes Selbst, mit ihm, der sich hingegeben hat für uns. Eingebettet in das eucharistische Mysterium, leben wir durch diese Vereinigung, diese communio oder Gemeinschaft mit dem Herrn. Die Eucharistie, so wußte einst noch Franz von Baader, ist die Keimzelle unserer abendländischen Gemeinschaft, ihrer Völker und Staaten, und die Kirche, der geheimnisvolle Leib Christi "ist das Lebensprinzip der Gesellschaft" (Pius XII.), allumfassendes Sakrament, das heißt "Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" (Vatikanum II). Damit aber ist zugleich der Begriff von Herrschaft und Opfer bis zum äußersten und letzten vorangetrieben. Eben durch sein immer wieder erneuertes Opfer beherrscht der Herr seine Gemeinde in einer Weise, die vollständiger und inniger nicht gedacht werden kann, denn in dieser absoluten Herrschaft sind Herrscher und Beherrschte völlig eins, ein Körper, ein Leib, ein Fleisch, ein Blut, eine Person, "totus Christus". Gerade in diesen Tagen, da der Karfreitag unseres Volkes immer schmerzlicher fühlbar wird, sind wir aufgerufen, das Kreuz auf uns zu nehmen, das Opfer mitzuvollziehen und aufzuerstehen im Herrn, damit zuletzt doch noch "Sein Reich komme" und sich vollende.


 
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