© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/98 10. April 1998

 
 
Vor 60 Jahren: Volksabstimmung über den Anschluß Österreichs
Kontroverse um 99,73 Prozent
von Lothar Höbelt

Der 13. März stand im Zeichen eines anderen Jahresregenten: 1938 wurde von 1848 in den Hintergrund gedrängt. Darüber hat der Verfasser eines Buches zu 1848 am allerwenigsten Grund zur Klage. Das verbindende, für viele möglicherweise kompromittierende Element zwischen den beiden Daten ist jedoch der großdeutsche Gedanke, der 1848 erstmals aufflammte, um von der österreichischen Politik prompt unmöglich gemacht zu werden, und der 1938 verwirklicht wurde, duch die Politik eines Österreichers, die ihn erst recht unmöglich machte. So weit, so schlecht.

Die großdeutsche Lösung war im Prinzip ein vernünftiger Gedanke: Warum sollten die Deutschen denn nicht möglichst alle in einem Staat vereinigt sein, so wie dies bei vielen anderen Völkern auch der Fall war? Der Teufel steckte im Detail, in der Gemengelage der Normalitäten in Mitteleuropa und in den imperialen Ambitionen der habsburgischen Bürokratie. 1918 war dann der gegebene Zeitpunkt, die Weichenstellung von 1848 und 1866 zu korrigieren und den "Ausschluß" Österreichs rückgängig zu machen. Die Dynastien und ihre rivalisierenden Ansprüche waren dahin: das Vielvölkerreich, dem eine deutsche Aufgabe zugefallen war, ebenfalls. Die großdeutsche Lösung erschien 1928 fast allen Beteiligten als logisch; daß sie dennoch verboten wurde, verboten wider alle Beteuerungen des eben erst proklamierten Selbstbestimmungsrechts der Völker, machte daraus einen Justament-Standpunkt.

 

Der Anschluß war nicht nur ökonomisch motiviert

Es ist in Österreich üblich geworden, die Anschlußbegeisterung auch dieser frühen Jahre zu hinterfragen, als eine ökonomisch motivierte hinzustellen oder als bloßes Hirngespinst der Intellektuellen. Letztere Version, da sie mit Vorliebe von ebensolchen mit viel Fachchinesisch verfochten wird, ist nicht ohne hübsche Ironie. Die Ökonomie wiederum sprach für Großraum und Freihandel, so wie sie das meist tut. In der gegebenen Situation war das ein Argument, das gelegen kam, um den westlichen Beobachtern den Anschluß schmackhaft und unumgänglich erscheinen zu lassen. Zuweilen war Ökonomie sogar gegenläufig: Für Vorarlberg wies sie in Richtung Schweiz, die Wiener Interessen in Richtung Donauföderation. Das deutsche Kapital in Österreich schließlich kam ohne Anschluß blendend aus: Die Firmen, die hier einen Fuß in der Tür hatten, wollten den Markt ja nicht mit heimischen Konkurrenten teilen, sondern lieber eine lokale Monopolstellung aufbauen. Ganz abgesehen davon, daß vom Kapitaleinfluß her die Westmächte in der Zwischenkriegszeit allemal wichtiger waren.

Das Problem lag anderswo. Der Anschlußwille war real und richtig. Das sollte uns freilich nicht hindern, einen Moment innezuhalten und zu fragen, warum man denn gar so über alle Maßen darauf versessen war. Auf den staatsrechtlichen Anschluß nämlich. Der doch eigentlich überflüssig war, gerade wenn man sich ohnehin einig war: Wenn der Inhalt stimmte, warum dann soviel Wert auf die Form legen? Wenn beide Regierungen und Parlamente dasselbe beschlossen, mochte die Entente sich auf den Kopf stellen.

Der Anschluß mußte also verschoben werden. Hans Kelsen, der Vater der österreichischen Verfassung, tröstete, das Anschlußverbot des Friedensvertrages sei genaugenommen bloß eine Durchführungsbestimmung, denn der Völkerbund sei ja zur Revision des Friedensvertrages berechtigt. Inzwischen betrieb man Rechtsangleichung, sorgte sich gemeinsam um die Sudetendeutschen, und ein Mann wie der österreichische Bundeskanzler Seipel prägte die Formel: Keine Kombination ohne oder gegen Deutschland. Insgeheim spielte er schon auch mit dem Gedanken, Österreich und das Reich könnten doch zum Beispiel das gleiche Staatsoberhaupt wählen, eine republikanische Personalunion…

Von den österreichischen Parteien hatten Seipels Christsoziale am meisten Grund zur Skepsis. Gegner waren sie deshalb nicht, und Engelbert Dollfuß, der 1932 als Bundeskanzler die Regierung übernahm, war es schon gar nicht. Er war mit einer Norddeutschen verheiratet und galt als Exponent des nationalen Flügels. Seine Kanzlerschaft wurde von der Berliner Wilhelmstraße ausdrücklich begrüßt.

Selbst als man aus innenpolitisch-ideologischen Beweggründen in eine Frontstellung gegen das nunmehrige Dritte Reich geriet, vollzog der österreichische Ständestaat keineswegs die Hinwendung zur "österreichischen Nation", sondern wollte sich vielmehr profilieren als Vertreter des echten Deutschland, als der bessere deutsche Staat, eine Strategie, die von damaligen Gegnern wie von heutigen Apologeten des Regimes geflissentlich ignoriert wird. Ein Regime, das nachträglich gerne als Austro-Faschismus apostrophiert wird. Diese Bezeichnung hätte ihm wahrscheinlich sehr gefallen; zutreffend ist wohl die Verkleinerungsform: Möchtegern-Faschismus. Vorbild war weniger Mussolini als der portugiesische Präsident Salazar. Als Tyrannei war es im europäischen Vergleich recht harmlos, wenn auch kleinkariert. Doch derlei Relativierungen sind für die Betroffenen kein Trost.

 

Das Regime hätte ohnehin verlautbart, was es wollte

Im Februar 1938 schlug Franz von Papen, damals Botschafter in Wien, ein Gipfeltreffen zwischen Hitler und dem Dollfuß-Nachfolger Schuschnigg vor. Schuschnigg fuhr nach Berchtesgaden und ließ sich dort zu Konzessionen breitschlagen. Als er merkte, daß diese Lockungen im Lande erst recht eine revolutionäre Situation heraufbeschworen, was anfangs mehr mit den internen Rivalitäten der NS-Untergrundbewegung als mit einer verschärfenden Strategie Berlins zu tun hatte, machte er Kehrtmarsch und kündigte eine Volksabstimmung über ein unabhängiges (dabei ausdrücklich: deutsches und christliches) Österreich an. Das war ein Fehdehandschuh, hingeworfen zur unrechten Zeit. Achtundvierzig Stunden später hatte Schuschnigg kapituliert. Der Anschluß vollzog sich unter den bekannten Vorzeichen.

Volle vier Wochen später fand noch eine Volksabstimmung statt, als der Anschluß längst vollzogen und rechtskräftig war, wenn er es je war – und die Staatenwelt war sehr wohl dieser Meinung, bis auf Mexiko, das protestierte, kurz darauf aber – was weniger bekannt ist – ein Öllieferabkommen mit dem Dritten Reich unterzeichnete.

Warum also noch eine Abstimmung? Die vermeintliche Notwendigkeit einer solchen ist eine perfekte Illustration des Faschismus als postdemokratisches Phänomen. Ein Autokrat von echtem Schrot und Korn hätte auf den Beifall von Meister Bäcker und Handschuhmacher verzichtet, selbst wenn er sich seiner sicher sein konnte. Der "Tapezierer" und "böhmische Gefreite", der weder das eine noch das andere war, nicht. Noch kurioser freilich: Wenn schon die Abstimmung eine überflüssige Formalität war, warum dann so viel Aufhebens darum noch im nachhinein?

Autoritäre Regime, von totalitären ganz zu schweigen, pflegen ihre Bilanz nun einmal mit 99 Prozent abzuschließen. Das ist nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich aus heutiger Sicht ist allenfalls, daß kein Propagandist auf die Idee verfiel, der Glaubwürdigkeit vor der Mit- und Nachwelt sei mit einer soliden Zwei-Drittel-Mehrheit doch viel besser gedient. Wie die Volksstimmung wirklich gewesen ist, läßt sich schwer beweisen. Schuschnigg selbst soll auf Befragen später erklärt haben, 20 Prozent seien vermutlich für ihn gewesen und 20 Prozent für Hitler, der Rest wartete ab, wie der Hase lief. Höhere Einsicht liegt vor allem in dem Hinweis, daß die Mehrheit selbst in Zeiten größter Polarisierung wohl immer noch mehr oder weniger aus dem apolitischen Publikum besteht. Die politische Brisanz aber lag darin, daß diese zwischen Regierung und nationaler Opposition "Unentschlossenen" das Gros der Sozialdemokraten umfaßten, für die sich – zwischen Schadenfreude und "ordentlicher Beschäftigungspolitik" – ohnedies nur die Frage des kleineren Übels stellte. Für die NSDAP als Partei war in Österreich 1938 (wie im Reich 1933) zweifelsohne nur eine Minderheit, für Hitler als Regierungschef vielleicht schon mehr, für den Anschluß als historischen Fortschritt – unabhängig von den Geburtswehen – vermutlich sehr wohl eine Mehrheit. 99 Prozent nicht – allein die durch den Regimewechsel aus Amt und Würden Verdrängten machten da wohl mehr aus als die 0,27 Prozent Gegenstimmen.

Damit soll nicht der Eindruck erweckt werden, die Abstimmung sei im großen Stil verfälscht worden. Otto Normalverbraucher stellte sich vielmehr ganz richtig die Frage der Marx Brothers: Was hat die Nachwelt je für mich getan? und stimmte nicht so, wie er es hätte tun müssen, um den Historikern der Nachkriegszeit Freude zu bereiten, sondern so, daß er im Hier und Jetzt die wenigsten Schwierigkeiten zu gewärtigen hatte. Gerade bekannte Oppositionelle hatten mit Repressalien zu rechnen, wenn die Abstimmung im Sprengel nicht so ausging, wie lokale Parteibonzen sich das erwarteten. An der vollzogenen Machtergreifung hätte es ohnehin nichts geändert. So naiv war man wohl nicht. Ganz abgesehen davon, daß das Regime natürlich verlautbaren konnte, was es wollte. Die Historiker sind sich freilich einig, daß es das im vorliegenden Fall gar nicht nötig hatte.

 

Die großdeutsche Lösung ist aufgehoben

Interessant ist daher weniger die Abstimmung als vielmehr die seltsame Faszination, die sie und ihre verhinderte Vorgängerin offenbar immer noch ausüben: Die Schuschnigg’sche Abstimmung, die ein Fehler, weil ein willkommener Vorwand für Hitler bzw. Göring war, wurde zur Heldentat stilisiert. Die 99,73 Prozent vom 10. April 1938 aber geben Anlaß zu kopfschüttelndem "Wie konnten sie nur?" Als ob derlei Rituale – im einen wie im anderen Fall – irgendetwas an den Realitäten ändern. Das Ergebnis ist ein seltsamer Diskurs, in dem überzeugte Anhänger des autoritären Prinzips mit plebiszitären Instrumenten jonglieren und nachgeborene Demokraten damit in Gewissensqualen stürzen.

Die großdeutsche Lösung aber ist aufgehoben, in dem mehrfachen Sinne, wie die Hegel’sche Dialektik das vorschreibt. Aufgehoben, weil ihre staatsrechtliche Version Anathema ist; aufgehoben, weil sie auf höherer Ebene in Europa längst verwirklicht wurde; aufgehoben auch, weil die Kontroversen, die sie ausgelöst hat, immer noch fort-leben.


 
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