© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Lettland: Joachim Sigerists "Volksbewegung" setzt im Wahlkampf auf ihr soziales Profil
Ein Deutscher will an die Macht
von Michael Peter/ Alex Stadler

Nach wie vor tauchen die drei baltischen Staaten – trotz ihrer starken Ausrichtung auf Deutschland – in der hiesigen Presseberichterstattung nur relativ selten auf. Und wenn, dann meist mit Negativschlagzeilen. Das gilt auch für Lettland, wo es in Riga seit Wochen Konflikte mit der großen, zu Sowjetzeiten zugewanderten russischen Bevölkerungsgruppe gibt, die von der Presse in Rußland massiv hochgespielt und als "Ereignisse" von den westlichen Medien in der Regel kritiklos übernommen werden. Neben diesem ethnischen Dauerbrenner der lettischen Innenpolitik war es in der Vergangenheit immer wieder ein Mann, der Lettland in Deutschland zum Thema gemacht hat: der rechts-konservative Publizist Joachim Siegerist (51) bzw. Joahims Zigerists, wie die lettische Namensform lautet.

Zwar ist es in deutschen Gefilden zur Zeit etwas stiller geworden um den einstigen Chefreporter von Hörzu und noch amtierenden Vorsitzenden der Gruppierung der Deutschen Konservativen. Doch angesichts seiner Popularität in der lettischen Bevölkerung und den für den 3./4. Oktober dieses Jahres in der Baltenrepublik angesetzten Parlamentswahlen dürfte sich dies bald ändern.

Siegerist ist ein höchst umstrittener Mann in Lettland und erst recht in Deutschland, wo er sich durch seine Buchveröffentlichungen im Boulevard-Stil nicht nur bei politischen Gegnern auf der Linken, sondern auch bei nicht wenigen Konservativen Kritik zugezogen hat. Doch zweifelsohne ist es ihm gelungen, in Lettland eine starke rechts-populistische Partei zu etablieren. 1992 zog der Deutsch-Lette, der ein Jahr zuvor wegen der Herkunft seines Vaters den lettischen Paß erhalten hatte, als Vorsitzender der frisch gegründeten "Volksbewegung für Lettland/Siegerist-Partei" mit vier Mitstreitern in die 100köpfige Saeima in Riga ein. 1995 stellte die Partei dann bereits 16 Abgeordnete im Nationalparlament und wurde damit zur zweitstärksten Kraft.

 

Seit 1995 zweitstärkste Partei im Parlament in Riga

Damals scheiterte eine Koalitionsvariante unter Beteiligung der Volksbewegung für Lettland an nur einer Stimme. Siegerist erklärte rückblickend gegenüber der jungen freiheit: "Kohl hat bis heute nicht dementiert, daß er dem lettischen Präsidenten – einem alten Kommunisten – gesagt haben soll: Wenn Sie verhindern, daß Siegerist in die Regierung kommt, helfen wir wieder mit Krediten."

Seit einigen Wochen läuft in Lettland wieder der Wahlkampf. Die Volksbewegung eröffnete ihn mit einem Auftritt Siegerists in Jaunvirlauka, der 80 Kilometer südlich von Riga gelegenen Heimatstadt seines Vaters. Vor 300 Zuhörern erklärte der Parteivorsitzende: "Ich will gerade im Wahljahr eines deutlich machen: Nichts ist momentan für mich wichtiger als soziale Hilfen für Menschen, die darauf angewiesen sind. Die Lebensverhältnisse für die Alten, Behinderten und Kranken in Lettland sind nach wie vor eine Schande. (...) Die jetzige Regierung hat nur eines geschafft – das aber glänzend: die Taschen der eigenen Minister gefüllt. Sie hat die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer gemacht."

Immer wieder rückt die Volksbewegung für Lettland ihre sozialen Zielsetzungen in den Mittelpunkt der Selbstdarstellung. Angesichts der enormen ökonomischen Probleme in dem kleinen ostmitteleuropäischen Land ist dies natürlich kein ungewöhnlicher Ansatz. Doch man tut auch einiges, um den Vorwurf des bloßen populistischen Geredes durch Taten zu entkräften. So unterhält die Partei in Riga ein "Sorgenbüro". Dort bekommen Bedürftige, vor allem viele alte Menschen, kostenlose Medikamente, und es werden außerdem mit Spendengeldern aus Deutschland erworbene Lebensmittelpakete abgegeben. Mandatsträger der Siegerist-Partei fahren mit einem "Sorgenmobil" übers Land. Dabei werden immer wieder auch sehr kleine, abgelegene Dörfer mit Lebensmittelhilfen, Arzneimitteln, Schulmöbeln usw. bedacht, die bis dato noch nie einen "Volksvertreter" live zu sehen bekamen.

Das soziale und Bauern-freundliche Profil sind es, die die Volksbewegung für Lettland so bekannt und erfolgreich gemacht haben. Nicht von ungefähr wirbt man mit ganzseitigen Anzeigen in diversen Lokalzeitungen ausgeprägt ländlicher Regionen, in denen in der Vergangenheit die Zustimmung bei Wahlen besonders groß gewesen ist. So lächelt einem zum Beispiel aus der Tageszeitung Zemgales Avize Joachim Siegerist in DIN-A3-Format entgegen, während sich im Hintergrund verschwommen das Porträt von Carlis Ul-manis abzeichnet, dem äußerst beliebten lettischen Vorkriegspräsidenten.

Die Siegerist-Partei, die nach eigenen Angaben 20.000 Mitglieder zählt, will sich Anfang Oktober mit über 500 Kandidaten dem Bürger präsentieren und ist damit in allen 26 Wahlbezirken vertreten. Man hofft, so lautet die ehrgeizige Zielvorgabe, 25 Mandate erringen zu können und zur stärksten politischen Kraft aufzusteigen, die dann schwerlich weiter von einer Regierungsbeteiligung ferngehalten werden könnte. Siegerist spricht es unumwunden aus: "Ich will Ministerpräsident von Lettland werden." – Seine Chancen stehen gar nicht einmal so schlecht, auch wenn die in Riga tonangebenden Politiker immer wieder den Niedergang der Volksbewegung herbeizureden versuchen. Der amtierende Außenminister Valdis Birkavas erklärte erst kürzlich in einem Interview: "Wir sind in einer Demokratie und können mit Siegerist leben. Seine Höhenflüge sind endgültig vorbei. Bei den nächsten Wahlen macht seine Partei null Sitze."

Rund 100 Wahlkampfauftritte sind für die kommenden Monate geplant. Darunter auch einige Großveranstaltungen. Denn Siegerist versteht es, die Menschen zu mobilisieren. Während am 18. November 1997, dem Nationalfeiertag, in der Hauptstadt Riga nur 8.000 Bürger die Rede des Präsidenten Ulmanis hören wollten, sprach Siegerist vor schätzungsweise 100.000 Menschen.

In Deutschland will Joachim Siege-rist sein Wahlprogramm und die derzeitige Situation in Lettland u. a. auf dem anstehenden Kongreß der "Deutschen Konservativen", einem von Siegerist geleiteten Förderverein, darlegen, der vom 19. bis 26. April im Hochsauerland stattfindet. Dabei soll auch seine – aus einer baltischen Perspektive vorgebrachten – Warnung vor der EU eine maßgebliche Rolle spielen. In Jaunvirlauka hatte er dazu gesagt: "Das Baltikum muß wieder einig werden. Bislang hat uns der europäische Traum nur soviel gebracht: Wir können unsere eigenen Produkte nicht mehr verkaufen. Aber der Westen verkauft seine Produkte bei uns. Ich habe immer vor übertriebenen Europa-Hoffnungen gewarnt. Diese Nation muß erst ihre eigene Identität finden. Ich will nicht von der sowjetischen Gefangenschaft in die europäische Bevormundung."

 

Siegerist warnt die Letten vor der Europäischen Union

In Lettland stößt solche Kritik an den "Vereinigten Staaten von Europa" allerdings noch auf viel Unverständnis. Zumindest dem lettischen Anteil der Bevölkerung steckt der kommunistische Alptraum und die mit diesem verbundene massive Russifizierung noch so tief in den Knochen, daß der Westen in Gestalt der EU den meisten noch als der große Rettungsanker erscheint. Angesichts der kürzlichen Androhungen "wirtschaftlicher Maßnahmen" gegen Lettland durch Jelzins Sprecher Jastrschembskij verstärken sich diese Hoffnungen – verständlicherweise – eher noch. Immerhin gehen zur Zeit 21 Prozent der jährlichen Exporte nach Rußland, und allein 12 Prozent der devisenbringenden russischen Ölausfuhren werden über den lettischen Hafen Windau (lett. Ventspils) abgewickelt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen