© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/98 24. April 1998

 
 
Nordirland nach dem Stormont-Abkommen: London hat Ulster immer als Ausland behandelt
Die Kapitulation der Loyalisten
von Michael Walker

Wer verstehen will, was in Nordirland passiert und was das sogenannte Stormont-Abkommen bedeutet, muß drei fundamentale Tatsachen begreifen, die unabhängig davon gelten, auf welcher Seite man in diesem Krieg steht. Die erste ist, daß das Abkommen die Kapitulationserklärung der Loyalisten darstellt, und die zweite, daß diese Kapitulation keine vor der Macht der IRA bzw. Sinn Féins ist, sondern vor der von den USA unterstützten Regierung in Dublin. Das dritte grundlegende Faktum ist die Erkenntnis, daß es nichts gibt, was diese britische Führung oder jede andere seit den Tagen der Bürgerrechtsbewegung in den 60ern lieber täte, als sich aus Ulster zurückziehen. Die unausgesprochene britische Antwort auf die republikanische Parole "Brits Out!" lautete die ganze Zeit über: "If only we could!"

Das Abkommen ist eine Kapitulation, weil mit ihm im Prinzip akzeptiert wird, daß die Regierung in Dublin – die die Teilung der irischen Insel von 1922 niemals als dauerhaft akzeptiert hat – ein "natürliches" nationales Mitspracherecht hinsichtlich der Regierung der sechs Counties von Ulster eingeräumt bekommt. Die Vereinbarung gibt der Bevölkerung in Ulster und in der Republik Irland das Recht, in jeweiligen Referenden über die staatliche Zukunft der Unruheprovinz abzustimmen, während den Bewohnern der anderen Teile der britischen Inseln diese Möglichkeit verwehrt wird. Somit geben bereits die Rahmenbedingungen für die Volksabstimmungen vor, daß Dublin in bezug auf Ulster mehr mitzureden hat als Westminster. Sollte eine Mehrheit in den sechs Grafschaften bei der ersten Volksabstimmung noch gegen die Vereinigung mit der Republik Irland stimmen, so wird es solange weitere Referenden geben, bis eine Mehrheit für den Zusammenschluß erreicht ist (angesichts der höheren katholischen Geburtenrate ist das nur eine Frage der Zeit). Danach wird es natürlich keine weiteren Volksabstimmungen zum Thema der Souveränität Ulsters geben. – Das ist das Szenario, wie es sich dieser Tage bereits deutlich abzeichnet.

Trotz der Vereinigungs-Option ist das Stormont-Abkommen nicht das, was die IRA wollte, denn es impliziert die Auffassung, daß Entscheidungen von demokratischen Mehrheiten und nicht von einer nationalistischen Vorhut getroffen werden. Den Kern des Vertrages bildet der gemeinsame Wille Dublins und Westminsters, eine reale Perspektive für die Beendigung des blutigen Krieges in Nordirland zu eröffnen und die republikanischen und loyalistischen Bewegungen völlig an den Rand zu drängen, um sie schließlich in die Geschichtsbücher zu verbannen, womit sie mit einem Federstrich in "politische Dinosaurier" verwandelt würden.

Der Erfolg des Abkommens wird in den Vereinigten Staaten besonders begrüßt werden, zumal diese stets den irischen Republikanismus unterstützt haben (ohne die finanziellen und propagandistischen Hilfen aus Amerika hätte die IRA sehr wahrscheinlich nicht überlebt). Der Preis, den die irische Regierung für die den eigenen Wünschen weit entgegenkommende Regelung wird bezahlen müssen, ist die volle Integration des Landes in die NATO.

Ein besonders unaufrichtiges Argument, das in einigen Kreisen vorgebracht wurde, ist, daß die Katholiken durch das Abkommen ermutigt würden, in die RUC (Royal Ulster Constabulary) – die nordirische Polizei – sowie andere öffentliche Institutionen in Ulster einzutreten. Tatsächlich hat die Taktik der "Provos" (der offizielle Name der heute wichtigsten katholischen Untergrundgruppe lautet "Provisional Irish Republican Army") immer darin bestanden, bevorzugt katholische Mitglieder der britischen Sicherheitskräfte zu töten, um so zu gewährleisten, daß diese und andere öffentliche Einrichtungen, die mit dem politischen Status quo assoziiert wurden, protestantisch blieben.

Die britischen Regierungen haben Ulster stets als Ausland behandelt. Von allen politischen Parteien waren nur die Grünen "unionistisch" genug, um einen eigenen Parteizweig in Ulster aufzubauen. Egal ob Labour, Conservative Party oder Liberals, durchweg hat die Antwort auf den "Fenian"-Terrorismus (die "Fenier" waren ein 1858 von ausgewanderten Iren in den USA gegründeter Geheimbund, der die gewaltsame Loslösung Irlands vom Vereinigten Königreich anstrebte) darin bestanden, Sinn Féin heftig zu kritisieren, und zwar in Worten, die genauso beleidigend wie ineffektiv waren. Man weigerte sich solange hartnäckig anzuerkennen, daß es einen Kriegszustand gab, bis ein Frieden möglich schien. Sinn Féin, deren Mitglieder die Londoner Politiker während der letzten 25 Jahre regelmäßig als "Kriminelle in den letzten Zügen" beschimpften, ist nun auf einmal zum maßgeblichen Repräsentanten der "einen Seite des Konflikts" avanciert.

Die Politiker reden von Frieden, aber der Preis des Friedens ist die loyalistische Kapitulation gegenüber einem vereinigten Irland. Die bittere Wahrheit für die Unionisten ist, daß sie sich loyal verhalten haben gegenüber einem "Mutterland", das sie nur loswerden wollte. Anders als Israel, zu dem viele Unionisten aus gutem Grund eine tiefe Affinität empfinden, hat Ulster keine mächtigen Freunde. Seit sich die Konservativen in einer anhaltenden Flaute befinden, haben die Ulster-Unionisten auch den letzten Rest an Einfluß in Westminster verloren.

Im Widerspruch zu dem Eindruck, der in den meisten Medien, besonders außerhalb Großbritanniens, erweckt wird, haben die Loyalisten in den letzten 30 Jahren weit weniger Terroropfer auf ihrem Konto als die Republikaner. Sie mögen jetzt mit bitteren Gefühlen darüber nachdenken, daß, hätten sie soviele Menschen zu Krüppeln gemacht und getötet wie die IRA, man sie heute vielleicht mit mehr Respekt behandeln würde. Jetzt ist der protestantische Extremismus jedenfalls zu schwach, um noch eine ernsthafte militärische Gefahr für irgendein Abkommen darzustellen. Die geschätzten acht Tonnen Waffen und Sprengstoff der protestantischen Untergrundformationen sind genug, um ein Ärgernis zu sein und ein paar Personen zu töten bzw. zu verstümmeln, aber sie sind nicht genug, um die Friedensinitiative zu stoppen, die inzwischen eine große Eigendynamik bekommen hat. – Es sei denn, Massen von Protestanten würden aus Enttäuschung zu loyalistischen Paramilitärs.

Bei den Republikanern liegt die Sache anders. Sie könnten das Abkommen ernsthaft in Frage stellen, und viele Ultras mögen auch den Wunsch hegen, dies zu tun. Aber sie sind mit einem Dilemma konfrontiert: Der Vertrag zeigt tatsächlich den Weg zu einem vereinigten Irland auf. Wenn sie sich also gegen ihn stellen und ein vereinigtes Irland per Referendum zustande käme, so wäre die IRA plötzlich wieder genauso marginalisiert, wie sie es in den 20er Jahren war. Wenn aber andererseits die republikanischen Kämpfer das Abkommen grundsätzlich akzeptieren, so müssen sie fürchten, daß sie dazu gezwungen werden, ihre Waffen herauszugeben, ohne zugleich die Sicherheit zu haben, daß es wirklich zu einem vereinten Irland kommt. Eine solche Entwicklung würde auch der IRA wie eine Kapitulation erscheinen.

Aus der Sicht der britischen Staatsmacht, die in ihrer "No Surrender!"-Rhetorik genauso lautstark war wie die irisch-republikanischen Rebellen, hat das massive Zugeständnis an die Regierung in Dublin erst recht den Charakter des Nachgebens, was ja auch objektiv der Fall ist. – Die Gewinner des Stormont-Abkommens sind die Leute, die den Frieden um jeden Preis wollen, die Dubliner Regierung, die ihn bringen wird, und Uncle Sam mit seiner Rolle als "ehrlicher Vermittler".

Die Verlierer werden diejenigen auf beiden Seiten des schrecklichen Grabens sein, die geglaubt haben, daß ein Blutopfer zu einer Nation ihres Herzens führen werde. Es ist zwar noch nicht klar, ob sie ihren letzten Schuß abgefeuert haben, aber es sicher, daß dieser Vertrag nicht der Stoff ist, aus dem ihre Träume bestehen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen