© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/98 24. April 1998

 
 
Gefährliche Nischen
von Manuel Ochsenreiter

Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr auf die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere heutige Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen." Eigentlich würde man hinter diesem Ausspruch CDU-Opas oder frustrierte linke Gemeinschaftskundelehrer vermuten. Doch beides ist weit gefehlt. Ein griesgrämiger Aristoteles war Schöpfer dieses Zitats, das auch heute bei der "älteren Generation" zu hören ist, wenn es mal wieder um "die Jugend" geht. Seit Generationen wiederholt sich dasselbe Spiel "Alt gegen Jung". Und auch heute sind sich Linke wie Rechte selten so einig wie bei der Einschätzung der "Jugend". Sehen die einen nur bauchgepiercte Triebmenschen, bejammern die anderen das fehlende revolutionäre Potential, welches ja so wichtig sei. Beide sprechen gerne von "damals" und von "früher".

Keine Frage, "die Jugend" macht es heute wie damals keinem recht, sie denkt ausschließlich an sich selbst, hört meist laute, monotone Musik und färbt sich die Haare bunt. Und sie ist argumentativ nicht faßbar. Nicht, weil sie etwa die besseren Argumente hätte, sondern einfach deshalb, weil sie sich abgesehen von ein paar kleinen Ausnahmen nicht dem Diskurs stellt. Nicht mal an Wahlen will sie sich so richtig beteiligen, wie die steigenden Nichtwählerquoten der letzten Jahre belegen. Die Jugend "engagiert" sich nicht. Sie geht weder zu den Pfadfindern noch besetzt sie Häuser. Statt dessen nehmen Teile der Jugendkultur ihren Platz in immer größer werdenden Nischen am Rande einer für sie unerträglichen Konsensgesellschaft, die als grau, alt und fahl empfunden wird, ein. Eine Gesellschaft, deren Grundlage aus materieller Zufriedenheit und geistiger Leere besteht, ein gigantischer Freizeitpark ohne wirkliche Identität. Die finden sie erst mittels Musik, Kleidung und einem eigenen Szene-Slang. Die inzwischen zur erfolgreichen Hard-Rock-Band avancierte Gruppe "Böhse Onkelz" bringt dieses Lebensgefühl auf den Punkt:

 

Es regnet Trübsal. Es regnet Angst.

Das Wasser steigt und steigt.

Und überflutet dieses Land.

Es regnet fahlen Geruch.

Lügen und Neid.

Verfaultes Fleisch. Irrsinn und Leid. Oder der Techno-DJ Tanith – sich selbst als "eher links" einschätzend – der in der aktuellen Ausgabe der Musikzeitschrift Raveline äußert: "Ich kann aber sagen, daß Politik in Deutschland sich in den Parteien kaum mehr unterscheidet, und daß ‘die da oben’ nichts mehr geregelt bekommen (…). Verbieten und unnötiges Reglementieren scheint den Jungs eher zu liegen (…)"

Eine Generation verweigert sich. Gefährlich wird dies für die Gesellschaft dann, wenn die Nischen attraktiver werden als das eigene Angebot. Nischen – Inseln – Zonen, Begriffe, die durchaus auch räumlich zu verstehen sind. Am Beispiel Berlins kann man diese Entwicklung sehr genau verfolgen. Die Epoche besetzter Häuser, Straßenschlachten und offener Konfrontation ist längst vorüber – ihre einstigen Protagonisten leben heute lieber in renovierten Dachgeschoßwohnungen.

Attraktive Jugendkultur findet heute in Hinterhöfen und Kellern statt. Dem aufmerksamen Beobachter öffnet sich dort ein eigenes, faszinierendes Reich, ein buntes Gemisch aus sämtlichen subkulturellen Strömungen, die man sich nur denken kann. Von der illegalen Schlagerparty bis zur ultraharten Gabba-Gemeinde – alles findet in den einstigen Ost-Bezirken der Hauptstadt sein

Plätzchen. Wird ein Club geschlossen, entsteht er einfach ein paar Häuser weiter neu. Eine eigene kleine flexible Welt, unkontrollierbar, entzieht sich so seit Jahren dem gesellschaftlichen Zugriff. Problematisch wird es für das Establishment, wenn die Keller zu klein werden, die Nischen wachsen wollen. Eindrucksvolle Beispiele bieten sich in den letzten Jahren. Da wäre beispielsweise die Techno-Veranstaltung Loveparade, deren Teilnehmerzahl von 1989 bis heute auf über eine Million anwuchs. Der eigentliche Rückzug ins Private wird dort zur Provokation. Wo die Nische zu klein wird, steht ein Ausbruch bevor. Elias Canetti beschreibt dies in "Masse und Macht" als "die Unzufriedenheit mit der Begrenztheit in der Zahl der Teilnehmer, der plötzliche Wille anzuziehen, die leidenschaftliche Entschlossenheit, alle zu erreichen." Auf welches Phänomen paßt diese Beschreibung besser als auf die Techno-Bewegung?

Auch die Wahl Guildo Horns zum deutschen Schlagerkönig war ein solcher Ausbruch. In einer Nacht wurde die gesamte schlagerhörende Flakhelfergeneration durch begeisterte Jugendliche lächerlich gemacht. Produzent Ralph Siegel – Symbol des etablierten Schlagers – wurde ausgerechnet vom Viva-Blödel-Moderator Stefan Raab entthront. "Gewonnen hat nicht Horn, gewonnen hat eine ganze Generation", jubelt Raveline-Kolumnist "Dr. Beckmann". "Danke, daß Du uns einen Weg aus der deutschen Tristesse weist", huldigt er Horn und vergleicht schließlich Ralph Siegel mit Helmut Kohl. Beide seien "gleichartige Persönlichkeiten" und Horns Sieg ein "Strohfeuer des beginnenden Widerstandes".

Widerstand und Opposition haben in unserer Konsensgesellschaft längst nichts mehr mit brennenden Barrikaden zu tun. Die einfache Formel für die Neunziger scheint zu lauten: "Rückzug ist Angriff". Aber Rückzug wohin? Ist das nicht genau das, was seit Jahren als "Atomisierung der Gesellschaft" kritisiert und bekämpft wird? Ist das nicht das Ziel einer antiautoritären Linken und der "Hauptfeind" einer auf Gemeinschaft und Ordnung orientierten konservativen Rechten? Die Antwort gleicht fast den Radio-Eriwan-Witzen: "Im Prinzip ja,…" Natürlich macht diese gesellschaftliche Zersetzung auch nicht vor altrechten Säulenheiligen halt. NATO-Konservative und verbitterte, "auf eine geistig-moralische Wende" wartende Korporierte sind in diesem Konsens mit inbegriffen.

Die Atomsierung stellt aber die vielzitierten Werte und Normen auf die Probe – und entlarvt sie meist als Lippenbekenntnisse und hohle Phrasen. Denn, wären sie so verwurzelt wie man es gern hätte, gäbe es dann überhaupt etwas wie eine Atomisierung? Sie ist quasi das reinigende Gewitter in einer inhaltsleeren Gesellschaft.

Rückzug, Vereinzelung und Atomisierung sind dennoch kein Selbstzweck, sondern lediglich Transportmittel und Zwischenstation zu neuen Formen von Gemeinschaften. Und der Anspruch ist groß. So schrieb 1994 das inzwischen eingestellte Techno-Fanzine Frontpage: "Wir haben die Vorahnung, daß die Visionen, die heute zur ‘Raving Society’ entwickelt werden, einen großen gesellschaftlichen Impact haben, vielleicht einen bedeutenderen als die Theorien und Ideologien der 68er."

Denn gerade in diesen Jugendkulturen erleben traditionelle Werte eine für das Establishment unheimliche Renaissance. Eine bis zum Exzeß aufgeklärte Vernunftsgemeinde wundert sich über diese Entwicklung, die doch längst überwunden sein sollte. Denn während sich "progressive" Pastoren über die Leere ihrer Kirchen wundern, laufen ihre Kinder scharenweise zu Konzerten und Veranstaltungen, auf denen eine längst überwunden geglaubte Mystik und Irrationalität ihre Wiederauferstehung feiert. Brennende Fackeln, Stroboskopgewitter, martialische Ästhetik mit finsteren Texten finden trotz Backstreet Boys und Toten Hosen immer mehr Anhänger. Wo DJs zu "Schamanen" werden und Clubs zu "heiligen Tempeln", wo der Tänzer nach Trance strebt, sind längst "freie Zonen" außerhalb einer durchrationalisierten BRD-Gesellschaft entstanden. Gemeinsamkeit ist mehr als sterile Interessengleichheit, man fühlt sich als "Stamm", als "Sippe" – gar als "Kampfgemeinschaft" wider die Gesellschaft – und erblickt überall archaische Symbolik, wie Friedhelm Böpple und Ralf Knüfer in "Generation XTC – Techno & Ekstase" beschreiben.

Doch wie soll man mit den neu entstehenden, oftmals suchenden Subkulturen umgehen? Die fast krankhafte Skepsis vieler Rechter gegenüber allem Neuen darf nicht alles sein, was sie zu bieten haben. Eines ist jedenfalls klar. Die neu entstehenden Subkulturen sind alles andere als links politisiert. Sie definieren ihre "Gegner" auch über die staubtrockene, problembeladene Betroffenheitskultur der Alt-68er-Autoritäten. Keinesfalls handelt es sich um spezifisch "rechte" Entwicklungen, obwohl sie sich zum Teil auf dieselben philosophischen Wurzeln berufen, wie zum Beispiel Teile der Gothic-Bewegung. Die Kritiker sollten vielmehr umdenken und den momentanen Prozeß nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen. Denn sind die dort in anderer Form wiedererstehenden Werte und Bindungen nicht genau deren Ziel? Es könnte sich dabei gar um die Überlebensfrage handeln, ob man sich dem etablierten Konsens von Junge Welt (Wiglaf Droste: "Schade, daß man nicht in China ist. Dann könnte man sie [die Raver, Anm. d. Verf.] alle einfach erschießen lassen. Eine Million Arschgeigen weniger. Das wäre gut.") bis Bild anschließt, oder den Sprung über den eigenen Schatten wagt und in der gesellschaftlichen Zersplitterung eine Chance zum Neuanfang sieht. Eines muß den Konservativen jedenfalls klar sein: Egal, ob sie sich für oder gegen diesen Trend entscheiden, die Karawane zieht weiter. Interessant ist lediglich eine Standortbestimmung. Begreift man wie Thomas Mann seine Aufgabe darin, "mit Maß und Ziel das Alte zu behaupten", können sich die Konservativen getrost mit auf das gesellschaftliche Abstellgleis bewegen und sich weiter am gemütlichen Konsens beteiligen. Sieht man sein Ziel allerdings in der konstruktiven Gestaltung einer neu entstehenden Gemeinschaft und als deren Ideenpool, wäre dies ein entscheidender Schritt aus der Bedeutungslosigkeit.


 
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