© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/98 24. April 1998

 
 
Pankraz, die Frühdiagnose und der Mensch als Kostenfaktor

Lange nicht mehr hat Pankraz ein so ratloses Buch gelesen wie den von Marcus Düwel und Dietmar Mieht soeben im Francke-Verlag herausgegebenen Sammelband "Ethik in der Humangenetik". Es geht darin um die vorgeburtliche Frühdiagnostik, deren Möglichkeiten offenbar schon so vielfältig und ausdifferenziert sind, daß die heikle Diskussion um Schwangerschaftsabbruch und Indikationsrecht dadurch bis ins schier Unerträgliche zugespitzt werden mag.

Man kann heute nicht nur voraussagen, ob ein Baby ein Junge oder ein Mädchen wird oder ob es halbwegs gesund zur Welt kommen wird, sondern auch, ob es im Sinne des Zeitgeistes und des herrschenden Geschmacks schön oder häßlich sein wird, wie alt es werden wird, welche Krankheiten es im Laufe seines Lebens kriegen wird und in welchem Maße es somit den Versicherungsgesellschaften und "der Gesellschaft" zur Last fallen wird.

Eine neue Art von Eugenik kündigt sich an, nicht eine aus Gründen des "Rasseerhalts" oder der "Volksgesundheit", sondern einer "vernünftigerweise vertretbaren Kosten/Nutzen-Analyse". Man berechnet etwa vorgeburtlich: "Dieses Baby, das da kommen will, wird ein ungeheuer teurer Kostenfaktor, früh von allen möglichen Süchten und Krankheiten heimgesucht und trotzdem mit hoher Lebenserwartung gesegnet, außerdem für jeden nur denkbaren modernen Beruf vollkommen ungeeignet und nie eine Augenweide für die Mitmenschen." Also, es wird "uns allen" ganz schrecklich zur Last fallen. Sollten wir es deshalb nicht besser gar nicht erst zur Welt kommen lassen?

Die Autoren des Düwel/Mieth-Bandes stellen diese Frage glücklicherweise nicht, sie schlagen sich nicht einmal auf die Seite jener Permissiv-Apostel, die einer individualistischen "sozialen Indikation" das Wort reden und das "Selbstbestimmungsrecht" der Mutter über allem anderen rangieren lassen. Doch sie sind auch keine "totalen" Abtreibungsgegner.

Wenn die Diagnose lautet, daß das Neugeborene ein hirnloses, autonomie-unfähiges Etwas sein würde, oder wenn das Austragen der Leibesfrucht oder die Geburt das Leben der Mutter akut gefährdet, dann sollte, sagen sie (und meint übrigens auch Pankraz), Austragung bzw. Geburt abgebrochen werden dürfen. Denn ein Mord rechtfertigt sich nie und nimmer durch einen anderen, und überhaupt sei das Leben der Mutter intensiver zu respektieren als das Leben der befruchteten Eizelle im Frühstadium. Vorgeburtliche Diagnostik, die tödliche Gefahren für die Mutter aufdecke, sei ethisch ohne weiteres vertretbar.

Wie aber, wenn statt individueller Selbstbestimmung und Lebenserhaltung "das Interesse der Gesellschaft" ins Spiel gebracht wird, wenn sich die vorgeburtliche Diagnostik, flächendeckend und unwiderlegbar präzise, in ein souverän handhabbares Instrument zur dauerhaften Verbesserung der sozialen Biostruktur verwandelt? Über die ethische Qualität einer solchen Entwicklung hätte Pankraz gern eine einigermaßen überzeugende Auskunft.

Naiv ist es ja zu glauben, man könne einerseits die vorgeburtliche Diagnostik ungehemmt entwickeln und andererseits jegliche Anwendung ethisch ächten und verbieten. Wem man eine Zange in die Hand gibt, der zieht damit auch die Nägel aus der Wand. Und im Zeitalter immer strengerer Kosten/Nutzen-Analysen und immer ausgedehnterer Sozialversicherungen ist der Tag gewiß nicht fern, da in den Geburtskliniken, an den Wochenbetten gewiefte Versicherungsagenten auftauchen, die das Kostenrisiko eines ungeborenen Kindes im Nu bis auf sechs Stellen hinter dem Komma berechnen und danach die Höhe ihrer Policen festlegen.

"Weil du arm bist, mußt du eher sterben", hieß es früher. Künftig könnte es gut heißen: "Weil du für die Gesellschaft (zu) teuer bist, wirst du gar nicht erst geboren". Aber kann sich eine Gesellschaft, die so etwas praktiziert, eigentlich noch ungeniert im Spiegel anschauen? Ist eine Eugenik qua Kosten/Nutzen-Analyse nicht die allerverächtlichste, die vorstellbar ist?

Es müssen mit Sicherheit ethische Grenzen gezogen werden. Einige Autoren bei Düwel/Mieth neigen dazu, die Frühdiagnose selbst auszugrenzen; solche Diagnose dürfe einfach nicht sein, zumindest dürfe kein Elternteil und kein Arzt das Recht haben, aus der Diagnose Indikationsgründe abzuleiten. Man soll auch im schlimmsten Fall sehenden Auges in das Übel hineingehen und darauf vertrauen, daß später der oder die Geborene mit ihren Nachteilen schon irgendwie in Würde zurechtkommen wird.

Das entspräche dann der strengen katholischen Auffassung, welche aber, findet Pankraz, natur- und kulturwidrig ist und zudem unrealistisch. Gewisse private Eugenik ist immer betrieben worden und wird auch weiterhin betrieben werden, die Natur hat nichts dagegen (um das mindeste zu sagen); die Ethiker haben schon viel erreicht, wenn sich Eltern und Arzt bei ihren Entscheidungen von gediegenen, anspruchsvollen moralischen Gesichtspunkten leiten lassen. Und prinzipiell gilt wohl, daß gegen eine allmähliche, von Frühdiagnostik geförderte Verbesserung der Biostruktur wenig einzuwenden ist.

Eine mächtige Grenze muß jedoch gezogen werden gegen die Gesellschaft und ihre Kosten/Nutzen-Techniker. Ihnen gegenüber müssen die Diagnosen geheim bleiben, ihnen muß das Recht verweigert werden, im Namen von "übergeordneten" Interessen Embryonen zu selektieren oder Normen für kostengünstige Mitmenschen aufzustellen. Je früher sich hier der demokratische Gesetzgeber auf den Weg macht, um sich selber Fesseln anzulegen, um so besser. Das ist viel wichtiger als Gesetze gegen das Klonen.

Denn keineswegs alles, was wenig kostet, ist deshalb auch gut. Und über die Güte eines Lebens sollte ohnehin nicht "die Gesellschaft" und am wenigsten die Versicherung entscheiden.


 
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