© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/98  01. Mai 1998

 
 
Vertriebene und Kulturpolitik: Hans-Günther Parplies über die "Entsorgung" des §96
Kein Ende Ostdeutscher Geschichte
von Jörg Bernhard Bilke

Herr Parplies, Sie wurden 1933 im westpreußischen Marienburg geboren und haben am 26. April Ihr 65. Lebensjahr vollendet. Bereits seit 1979 amtieren Sie als Geschäftsführer der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat. Werden Sie auch in Zukunft der ostdeutschen Kulturarbeit verbunden bleiben, auch wenn Sie diesen Posten in Kürze abgeben?

PARPLIES: Ganz gewiß. Beim Ostdeutschen Kulturrat gehöre ich ja weiterhin dem Kuratorium an, und ich bin Mitglied in einer Reihe anderer ostdeutscher Kultur-Institutionen, so beim Nordostdeutschen Kulturwerk, im Kuratorium der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen sowie im Kuratorium des Gerhart-Hauptmann-Hauses in Düsseldorf. Im Vertriebenenbeirat beim Bundesinnenminister bin ich Vorsitzender des Kulturausschusses. Außerdem will ich mich künftig verstärkt wieder publizistisch betätigen.

Die Stiftung Ostdeutscher Kulturrat betreut mehrere Buchreihen, von denen die zwölfbändige Studienbuchreihe "Vertreibungsgebiete und vertriebene Deutsche" – obwohl anders konzipiert – sicher dem Vergleich mit den zehn Bänden der "Deutschen Geschichte im Osten" aus dem Berliner Siedler-Verlag standhält. Von dieser Studienbuchreihe sind acht Bände erschienen, der neunte geht in den Druck. Zur Jahrtausendwende dürfte die Reihe vollständig vorliegen. – Ist das nun der Schlußpunkt ostdeutscher Geschichte und Kultur: die 700 ereignisreichen Jahre bis 1945 mit ihren unüberschaubaren Kulturleistungen als eine Art von Bilanz vorgelegt in zwölf Büchern und danach kommt nichts mehr?

Volkslieder der Krimtataren statt schlesischer Bräuche

PARPLIES: Die Studienbuchreihe, die übrigens im Untertitel mit Bedacht ausdrücklich als Zwischenbilanz zu Vertreibung und Aussiedlung firmiert, ist gut geeignet, am konkreten Beispiel zu erleben, daß ostdeutsche Geschichte und Kultur keineswegs an ihrem Ende angelangt sind: Als im vergangenen Jahr die zuerst erschienenen Bände der Reihe vergriffen und Neuauflagen vorzubereiten waren, zeigte sich sehr rasch, daß in den wenigen Jahren seit der Erstellung der Manuskripte für die Erstauflagen in den Wendejahren 1989-91 beträchtliche Fortschreibungen notwendig geworden waren, weil eben ostdeutsche Geschichte weitergegangen ist und weil ostdeutsche Kultur dabei ist, auf vielfältige Weise in die Herkunftsgebiete zurückzukehren und dort vor Ort als solche bewußt zu werden. Der Ostdeutsche Kulturrat ist mit seiner grenzüberschreitenden Arbeit ja lebhaft daran beteiligt, und nach meiner Einschätzung stehen wir mit dieser Entwicklung, die durch die Wende im Osten möglich geworden ist, erst am Anfang.

Was konkret die Studienbuchreihe betrifft, so ist die Planung, daß die Bände mit jeder notwendig werdenden Neuauflage immer wieder auf den aktuellen Stand gebracht werden. Ostdeutsche Bildungsarbeit ist hier als Daueraufgabe zu verstehen.

Es ist doch aber so, daß ostdeutsche Kulturarbeit – obwohl gesetzlich verankert – nach der politischen Wende und Wiedervereinigung Restdeutschlands immer schwieriger geworden ist. Woran liegt es, daß die heutigen Deutschen einen Teil ihrer Geschichte so radikal verleugnen, daß sie sogar den Begriff "Ostdeutschland" auf Mitteldeutschland, die Ex-DDR also, übertragen haben?

PARPLIES: Ich fürchte, daß große Teile der Bevölkerung, allen voran viele Meinungsmacher in den Medien, diesen allzu bequemen Weg in der irrwitzigen Hoffnung bzw. Einbildung gehen wollen, mit der Streichung Ostdeutschlands aus der deutschen Geschichte und Kultur den verlorenen Krieg und die Verbrechen Hitlers gleichsam ausgleichen zu können. Doch eine so billige Lösung kann und wird nicht gelingen. Nach aller Erfahrung brechen derart verdrängte Komplexe später um so eruptiver wieder auf. Was not tut, ist daher nicht Streichung oder Verdrängung, sondern im Gegenteil eine verstärkte Beschäftigung mit dem ostdeutschen Anteil an deutscher Geschichte und Kultur und dessen Verinnerlichung.

Ostdeutsche Kulturarbeit, so meinte man immer, werde erst dann staatlicherseits eingestellt, wenn der Paragraph 96, der diese Aufgabe regelt, durch irgendeine Bundesregierung abgeschafft würde. Nun muß man erfahren, daß der maßgebliche Paragraph zwar weiterbesteht, aber uminterpretiert wird, so daß alles mögliche, wie beispielsweise das kirchenpolitische Wirken des Tschechen Jan Hus oder die Volkslieder der Krimtataren, miteinbezogen werden kann.

So wird neuerdings auch auf die Begriffe "schlesisch", "pommersch" oder "ostpreußisch" verzichtet und dafür das Unwort "ostmitteleuropäisch" eingesetzt. Jüngstes Beispiel ist die "Kommission für ostdeutsche Volkskunde", die unter der 1994 eingesetzten Vorsitzenden Dr. Heike Müns/Oldenburg den Namen "Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde" angenommen hat, wobei das Attribut "deutsche" bald gestrichen werden dürfte. Sehen Sie hier auch die Gefahr einer Aushöhlung des Paragraphen 96 und letztlich seiner Abschaffung "auf kaltem Wege"?

PARPLIES: Ja, diese Gefahr besteht akut. Auf Länderebene – mit Ausnahme der "Südschiene" Bayern/Baden-Württemberg – mehr noch als beim Bund. Daß es so weit gekommen ist, hängt auch damit zusammen, daß auf diesem Felde der Politik oft allzu ängstlich taktiert worden ist nach dem Motto: Nur nicht daran rühren, um keine "schlafenden Hunde zu wecken". Das erweist sich jetzt als falsch.

Ich war immer der Auffassung, legitime Anliegen auch gegen mögliche Widerstände offensiv zu vertreten. Das setzt freilich die Fähigkeit dazu voraus. Wenn ich zum Beispiel die gegenwärtige Opposition im Landtag von Nordrhein-Westfalen betrachte, so fehlt ihr im Blick auf den Paragraphen 96 diese ganz offensichtlich. Es ist aber höchste Zeit, daß über Bedeutung und Inhalt ostdeutscher Kulturwahrung heute und in Zukunft endlich eine öffentliche Debatte geführt wird.

Überfällige Debatte über ostdeutsche Kulturwahrung

Nur so kann die Aufgabe, die Staat und Gesellschaft hier gestellt ist, wieder in das allgemeine Bewußtsein gelangen. Selbst eine äußerst scharfe Debatte kann der Sache nicht so sehr schaden, wie schleichend verfälscht und totgeschwiegen zu werden. Ich hoffe daher sehr, daß die notwendige Diskussion bald in Gang kommt. Die Anzeichen dafür mehren sich immerhin.


 
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