© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/98  01. Mai 1998

 
 
Sozialpolitik: Studie "Verdeckte Armut in Deutschland" vorgestellt
Kartoffelsuppe für die Armen
von Anneliese Metz

Sie kommt in keiner amtlichen Statistik vor, die Öffentlichkeit schenkt ihr keine Aufmerksamkeit, und doch ist sie – auch in der Bundesrepublik Deutschland – ein Massenphänomen: verdeckte Armut.

Zu diesem Ergebnis kommt das in Frankfurt/M. ansässige Institut für Sozialberichterstattung & Lebenslagenforschung (ISL) in einer vergangene Woche vorgestellten Studie. Als verdeckt arm werden in der von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Untersuchung jene Personen bezeichnet, die aufgrund ihres geringen Einkommens Anspruch auf Sozialhilfe haben, aber – aus welchen Gründen auch immer – diesen Anspruch nicht geltend machen. Bei dem untersuchten Personenkreis handelt es sich demnach um Menschen, die mit einem Einkommen auskommen müssen, das unterhalb des vom Sozialhilfegesetz zugesicherten "sozio-kulturellen Existenzminimums" liegt. Nimmt man die durchschnittlichen Sozialhilfeeckregelsätze, hatten die in verdeckter Armut lebenden Personen 1995 ein Einkommen, das weniger als 519 Mark betrug.

Die empirische Auswertung des ISL ergab nun, daß in beiden Untersuchungszeiträumen verdeckte Armut in erheblichem Ausmaß vorhanden war. Die getrennt nach alter Bundesrepublik und neuen Bundesländern erfolgte Erhebung kommt zu dem Ergebnis, daß im Jahr 1991 fast drei Millionen Menschen (3,7 Prozent der Bevölkerung) in verdeckter Armut lebten. Ganz deutlich sei ein Ost-West-Gefälle feststellbar: Während es in den neuen Bundesländern 891.000 Personen (5,6 Prozent) waren, die als verdeckt Arme gelten konnten, waren es in der alten Bundesrepublik rund zwei Millionen (3,2 Prozent). Dies erklären die Verfasser damit, daß das Bundesozialhilfegesetz (BSHG) zwar zum 1. Januar 1991 auch die neuen Bundesländer einschloß, die Umsetzung anfangs jedoch nur zögerlich in Gang kam.

Eine Angleichung von Ost- auf Westniveau ging dann in den folgenden Jahren vonstatten, so daß im Jahr 1995 von einer gesamtdeutschen Armut gesprochen werden könne: Die Anzahl der in verdeckter Armut lebenden Personen in Westdeutschland blieb konstant bei über zwei Millionen, während in den östlichen Bundesländern ein Rückgang auf rund 651.000 Personen (4,2 Prozent) registriert wurde. Insgesamt lebten der Studie zufolge 3,4 Prozent der Menschen in verdeckter Armut.

Wenn man dem Ergebnis der Untersuchung Glauben schenken darf, kommen auf 100 Sozialhilfeempfänger zusätzlich rund 110 verdeckte Arme, die jedoch keine Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) beantragen und dadurch unter Sozialhilfeniveau leben müssen.

Berücksichtigt man die Ausgaben der Kommunen, die für laufende Leistungen zum Lebensunterhalt im Jahr 1995 17,306 Milliarden Mark aufbringen mußten, würde nach Einfließen dieser Studie ein Mehraufwand an Sozialhilfeleistungen für Westdeutschland von 3,338 Milliarden Mark und in den östlichen Bundesländern von 1,140 Milliarden Mark notwendig werden.

Betrachtet man den betroffenen Personenkreis genauer, wird folgendes deutlich: Am stärksten von der verdeckten Armut betroffen sind Paare mit Kindern unter 16 Jahren (1995: 8,4 Prozent) und alleinerziehende Mütter (7,5 Prozent). Am geringsten betroffen sind Paare ohne Kinder (0,7 Prozent). Bei Aufschlüsselung der Altersgruppen wird noch etwas deutlich: Als besondere Problemgruppe müssen Minderjährige angesehen werden. 5,4 Prozent der 7- bis 17jährigen, jedoch nur 2,2 Prozent (1991: 4,0) der über 60jährigen, lebten 1995 unterhalb des Existenzminimums. Die Studie spricht deshalb in diesem Zusammenhang von einer "Infantilisierung der Armut".

Auch bei der ausländischen Bevölkerung ist die Armutsquote laut ISL-Studie besonders hoch: 7,3 Prozent. Diesen Umstand erklären die Verfasser damit, daß diese "aus Scheu" oder "Angst vor Sanktionen" auf die Beantragung von HLU verzichten würden.

Die Studie befaßt sich zwar bewußt nur mit einem Teilaspekt der Armut in Deutschland und klammert Bereiche wie die Obdachlosigkeit oder Langzeitarbeitslosigkeit (siehe Grafik) vollkommen aus. Das Ergebnis dieser Studie macht nach Ansicht des SPD-Sozialpolitikers Konrad Gilges deutlich, wie wichtig ein nationaler Armuts- und Reichtumsbericht wäre, um Schieflagen bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen "transparent zu machen" und die Voraussetzungen für die Bekämpfung der Armut in Deutschland zu schaffen. Handeln sei dringend erforderlich.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen