© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/98  08. Mai 1998

 
 
Osijeks zweites Leben: Bürgermeister Kramaric über den Wiederaufbau Ost-Kroatiens
Erst kommt der mentale Neubeginn
von Johann F. Balvany

Prof. Dr. Zlatko Kramaric ist Vize-Präsident der Kroatischen Sozial-Liberalen Partei, Abgeordneter im Nationalparlament und seit 1990 Bürgermeister der ostkroatischen Hauptstadt Esseg (Osijek), in der er 1956 geboren wurde. Nachdem er 1985 in Philosophie promoviert hatte, wurde Kramaric 1989 Professor für Literatur und Pädagogik und amtierte zwischen 1992 und 1994 als stellvertretender Rektor der Esseger Universität. Während der serbischen Belagerung und Bombardierung der Stadt erwies er sich als geschickter Organisator des Nachschubs. Heute trägt Zlatko Kramaric die Hauptverantwortung für den Wiederaufbau der Stadt und der umliegenden Region.

Herr Kramaric, wie lange mußte ihre Stadt insgesamt mit der serbischen Belagerung und der anschließenden Abriegelung von der Außenwelt fertig werden?

KRAMARIC: Osijek war zwischen dem 1. Juli 1991 und dem 1. Juni 1992 von serbischen Einheiten umzingelt und wurde in dieser Zeit von jenseits der Drau einen Monat lang unter Dauerbeschuß genommen. In dieser Zeit mußten wir viele ältere Leute und Kinder in das benachbarte Ungarn evakuieren. Wir hatten tausend Tote zu beklagen, darunter zu 70 Prozent Zivilisten. Eine wichtige Straße und eine Bahnlinie in Richtung unserer Hauptstadt Zagreb konnten zum Glück mehr oder weniger freigehalten werden.

Erst die Ablösung der serbischen "Nachbarschaft" durch UNO-Einheiten (IFOR) im Jahre 1996 brachte eine deutliche Erleichterung. Allerdings waren die "Blaumützen" unter dem Kommando des US-Generals Jacques Klein zwar gewiß guten Willens, aber natürlich vermochten sie nicht im Handumdrehen das gutzumachen, was uns zuvor alles angetan worden war. Sie verfügten hierfür längst nicht über das erforderliche Material.

Unter welchen Umständen beginnt Esseg heute sein "neues Leben"?

KRAMARIC: Die Rechtssicherheit und Stabilität, die für einen wirklichen Neuanfang zwingend erforderlich sind, existieren ja erst seit dem 15. Januar dieses Jahres, als unsere gesamte Region endlich wieder voll unter die Verwaltung des kroatischen Staates gestellt wurde. Angesichts der enormen Zerstörungen und des allgegenwärtigen Chaos ist in der seitdem vergangenen kurzen Zeit verständlicherweise vieles noch unerledigt geblieben. Solange Kroatien hier und in der Umgebung nicht wirklich wieder "Herr im eigenen Hause" geworden war, hatten die öffentliche und die private Hand nur die dringendsten Aufräumarbeiten und Reparaturen durchführen können.

"Die Serben sollten mit Forderungen schweigen"

Eine umfassendere Regierungshilfe ist erst jetzt vorstellbar; gleichzeit setzt nun eine größere private Unterstützung aus der Bundesrepublik Deutschland und Österreich ein, das heißt von nach dem Zweiten Weltkrieg dorthin geflüchteten Kroaten und den Gastarbeitern aus den Tagen der etwas milderen Herrschaft Titos.

Was ist Ihre Meinung zu dem gerade wieder groß in die Medien gekommenen Thema der Flüchtlings-Rückführungen?

KRAMARIC: Das ist in der Tat ein heißes Eisen! Um die Jahrhundertwende bestand die Hälfte der hier lebenden Bevölkerung aus Deutschen. Die in die Kirchenwände eingelassenen Holzkreuze, die – gottlob – gut erhalten sind, tragen deutsche Aufschriften. Dennoch gibt es heute kein Heimkehrproblem für die im Zuge der Kriegswirren geflüchteten Deutschen. – Warum rufen nun die Serben so lautstark danach, und warum werden sie dabei vom Westen sekundiert? In Osijek lebten auch vor der Belgrader Aggression nur wenige Serben, von denen wiederum viele hier zusammen mit uns die Zeit der Belagerung durchgestanden haben. Gegen diese Leute hat niemand etwas einzuwenden.

Die übrigen allerdings werden entweder mit Gleichgültigkeit oder gar mit Unmut betrachtet, und sie wissen das auch. Ihre Staatsführung hat uns soviel Leid angetan, daß sie jetzt lieber mit Forderungen schweigen sollten. Ihretwegen können heute Kroaten, Ungarn und Angehörige anderer Völker nicht in ihre Heimatgebiete zurückkehren.

Sie erwähnten die deutschen Spuren in Esseg. In ganz Kroatien sollen ja heute noch knapp 3.000 Donauschwaben leben, und in Ihrer Stadt besteht seit dem Schuljahr 1995/96 immerhin auf privater Grundlage eine Deutsche Schule "St. Anna". Ansonsten ist dieses Erbe inzwischen zur Geschichte geworden und – zumindest in Deutschland – weitgehend vergessen. Viel mehr hört man demgegenüber in den hiesigen Medien über Schwierigkeiten mit den in Ost-Kroatien lebenden Zigeunern. Was ist an dieser Sache dran?

KRAMARIC: Nördlich von Osijek, in Darda, befindet sich seit jeher ein großes Zigeunerlager. Die meisten Bewohner desselben, sofern sie im Mannesalter sind, haben mit der serbischen Besatzungsmacht auf die infamste Weise kollaboriert: als Hilfspolizisten, gewalttätige Okkupanten von Häusern und Land bzw. als Denunzianten. Nach der Rückkehr der kroatischen Verwaltung wollten sie – ihrem schlechten Gewissen folgend – nach allen Himmelsrichtungen flüchten. Wir mußten sie dabei sogar daran hindern, schnurstracks in die Minenfelder zu laufen. Nicht selten mußten sie auch vor dem Volkszorn geschützt werden. Dann galt es auch im Hinblick auf diese Zigeuner für Gerechtigkeit zu sorgen und die schlimmsten Kollaborateure zu bestrafen, was wiederum weitere ethnisch motivierte Konflikte nach sich gezogen hat.

War es den kroatischen Behörden möglich, zumindest einige der maßgeblichen Kriegsverbrecher festzunehmen?

KRAMARIC: Unsere Justiz ist bestrebt, Gerechtigkeit nach allen Seiten walten zu lassen. Aufgrund der seit Mitte Januar entstandenen neuen Lage muß das Zagreber Parlament nun entsprechende Gesetze schaffen. Nach dem Ende des serbischen Annexionskrieges war die Situation des Landes derart chaotisch, daß es nahezu unmöglich ist, rückblickend die genauen Schauplätze, die Umstände, die Täter und die Mitläufer der zahlreichen Verbrechen zu ermitteln.

"Das Minenproblem ist die größte Sorge der Bauern"

Ganz allgemein kann man feststellen, daß die Schwerverbrecher spätestens seit dem Einzug von UNO-Truppen nach Serbien und in den serbisch dominierten Teil der bosnisch-kroatischen Föderation in andere Gegenden fort sind, um sich der Verantwortung zu entziehen. Fassen können wir daher zumeist nur die "kleinen Fische". Auf jeden Fall gilt es, jedwede Form von Selbstjustiz zu verhindern.

Wie sieht der ostkroatische Alltag nach dem Exodus der Serben aus?

KRAMARIC: Erst langsam haben die Menschen seitdem begonnen, wieder frei zu sprechen. Zu groß war noch die Furcht vor der serbischen Macht und ihren in der Region verbliebenen Spitzeln. Der mentale Neubeginn ist der erste große Schritt in die wiedergewonnene Freiheit. Immerhin kommen Berichte über die Greueltaten und versteckte serbische Waffenlager jetzt nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit.

Der kroatische Vize-Innenminister Josko Boric hatte alle Hände voll zu tun, um die Bevölkerung zu beruhigen und die nötigen Untersuchungen einzuleiten und durchzuführen. Um beispielsweise Massengräber nachzuweisen, mußte erst das Auftauen des Bodens abgewartet werden. Rentner blieben oft ohne finanzielle Unterstützung, weil ihre entsprechenden Nachweise vernichtet bzw. verschwunden sind.

Verläuft der wirtschaftliche Wiederaufbau ähnlich schwierig wie der mentale Neuanfang?

KRAMARIC: Man muß wissen, daß 70 Prozent unserer ökonomischen Strukturen durch die Kampfhandlungen zerstört worden sind. Die Felder im ungarisch-kroatischen Grenzgebiet hatte man weitgehend vermint, was ihre Nutzung teilweise für unabsehbare Zeit unmöglich macht. Die Beseitigung dieser Minenfelder, über deren genaue Lage es keinen Plan gibt, ist die größte Sorge der regionalen Landwirtschaft, die unter den Verdienstausfällen sehr zu leiden hat. Wir hoffen auf die baldige Entsendung einer ungarischen Minenräumungseinheit im Auftrag der UNO.

Immerhin gelingt es uns mittlerweile auch in den entlegeneren kleineren Ortschaften nach und nach wieder, die öffentlichen Dienste, die ärztliche Betreuung sowie die Bereitstellung von Versorgungsgütern zu gewährleisten. Dank tätkräftiger Hilfe von seiten der Vereinten Nationen sind auch die Fernmelde-, Straßen- und Bahnverbindungen mittlerweile intakt.

Ist das Image Deutschlands in Kroatien immer noch so gut wie in der ersten Zeit nach Erlangung der Unabhängigkeit?

KRAMARIC: Die Bevölkerung hat in einer Extremsituation am eigenen Leibe erfahren, daß nur die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und in geringerem Ausmaße auch Ungarn, die Benelux-Staaten und die skandinavischen Länder dem eigenen Land als Helfer und Retter zur Seite standen. Die Aufnahme von Flüchtlingen während der Kampfhandlungen, die Betreuung von Flüchtlingslagern innerhalb Kroatiens und natürlich auch die Unterstützung auf internationaler Ebene haben sich tief in die Herzen der Menschen eingeprägt. Damit ist für lange Zeit ein gutes Fundament für die Beziehungen zwischen dem kroatischen und dem deutschen Volk gelegt worden.


 
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