© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/98  08. Mai 1998

 
 
Palästina: Fehlschläge in der Nahostpolitik stärken die Köpfe der Radikalen
Arafats Tage sind gezählt
von Johann F. Balvany

Die zuletzt Anfang der Woche mit dem Scheitern des Londoner Dreier-Gipfels deutlich gewordene Agonie des nahöstlichen Friedensprozesses, die unter den gegenwärtigen Umständen unabsehbare Möglichkeit einer Wiederbelebung sowie nicht zuletzt der politische wie vor allem physische Niedergang des bisher stets unverwüstlichen PLO-Chefs Jassir Arafat haben die Warnungen vor künftigen Machtkämpfen unter den Palästinensern noch verstärkt.

Entgegen dem Rat seiner Geheimdienste, die nach dem Abgang Arafats eine chaotische Situation unter den Palästinensern vorhersagen, steuert der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit seinem politischen Kurs auf ein baldiges Ende des charismatischen PLO-Führers zu und erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Machtübernahme durch den radikalen Hamas-Scheich Ahmed Yassin (64), der trotz seiner Erblindung und teilweisen Lähmung aus Gaza geschickt die Fäden für seinen weiteren politischen Aufstieg zieht. Angesichts des Londoner Debakels brach er sogleich nach Damaskus und Teheran auf, um von dort den bewaffneten Kampf gegen die verhaßte israelische Besatzung zu reorganisieren und zu aktivieren.

Das iranische Patronat über die Hamas wie über die Hisbollah ist ja längst bekannt. Doch obwohl sich daraus eine weit größere Gefahr für den nunmehr seit einem halben Jahrhundert bestehenden Judenstaat ergeben könnte, als diese jemals von der PLO ausging, verfolgen die führenden Politiker in Tel Aviv nach wie vor eine extrem unbewegliche, dogmatische Politik. Der Hoffnungsschimmer eines großangelegten Kompromisses mit dem Mullah-Regime im Iran, dem man durch die zukunftsträchtigen amerikanischen Verhandlungen mit Ministerpräsident Khatami bereits ein Stück nähergekommen schien, wird – auch weil die USA noch zögern, Israel stärker an die Kandare zu nehmen – beharrlich ausgeblendet.

Die Begünstigung der extremen Kräfte unter den Palästinensern kann eigentlich nicht im Interesse der israelischen Politik liegen, und die Hoffnung auf eine stabile Befriedung der gesamten Region könnte damit wohl endgültig abgehakt werden. Dennoch forciert der Likud-Regierungschef den jüdischen Siedlungsbau auf palästinensischem Boden, was von den eigentlichen Bewohnern nicht anders denn als Provokation aufgefaßt werden kann.

Das in Paris erscheinende Nachrichtenmagazin Jeune Afrique sprach in bezug auf die in entscheidender Weise auf den Vater der Libanon-Invasion von 1982, General Ariel Sharon, zurückgehende gegenwärtige Politik Netanjahus von einem zielstrebig geführten "Siedlerkrieg". Dieser läßt sich in groben Zügen wie folgt skizzieren: Die im arabischen Ost-Jerusalem bereits errichteten 5.700 Wohnungen für jüdische Siedler werden um 4.500 weitere ergänzt, und die in Ma-Ale Eduim bereits geschaffenen bevölkerungspolitischen Tatsachen sind auch für Givat Ze-Ev ins Auge gefaßt, indem zu den 2.500 vorhandenen Behausungen noch 1.300 hinzukommen sollen. Des weiteren sollen, so Jeune Afrique, die 2.300 Quartiere der Ultra-Orthodoxen in Beiter mindestens verdoppelt werden.

Außerdem werden weiterhin Hunderttausende Palästinenser durch willkürliche Grenzsperren von ihren Arbeitsplätzen in Israel ferngehalten, wodurch sich die soziale Lage in den Autonomiegebieten ebenso weiter verschärft wie durch die Zurückhaltung von 75 Millionen Dollars an Steuergeldern und Gebühren, die der Palästinenserführung in Gaza zustehen und u. a. für die Bezahlung von Polizisten gedacht sind. Wie das zu dem immer wieder an Arafat herangetragenen Wunsch passen soll, den Terrorismus im Westjordanland und im Gaza-Streifen schärfer zu bekämpfen, erscheint schleierhaft.

Im Umfeld des amtierenden PLO-Chefs wird im Hinblick auf die immer offener ausgetragene Nachfolgediskussion vor allem der Name Abu Mazens, der gegenwärtigen Nr. 2 der Organisation, ins Spiel gebracht. Dieser wurde 1935 in Safed geboren, promovierte in Moskau mit einer Arbeit über den Zionismus und ist in der PLO seit 1977 mit der Koordination der Kontakte zu Israel betraut. Abu Mazen und nicht der in Tunis "kaltgestellte" Faruk Kaddumi gilt als der wirkliche Außenminister der Palästinenser. Er ist sowohl in den Vereinigten Staaten wie in den Golf-Emiraten gern gesehen und steht als maßgeblicher Mitgestalter des Osloer Friedensprozesses ganz oben auf der Abschußliste des PLO-Killers Abu Nidal.

Auch PLO-Parlamentspräsident und "Finanzminister" Abu Alaa, ebenfalls einer der Drahzieher des Abkommens von Oslo und Verhandlungsführer mit den arabischen Staaten, kann sich Chancen auf die Arafat-Nachfolge ausrechnen. Im Jahre 1937 in Abu Dis geboren, leitete er die "Arabische Bank" in Saudi-Arabien, war weltweit an der Gründung von Großkonzernen beteiligt und rief auch den Hilfsfonds für die Hinterbliebenen der PLO-"Märtyrer" ins Leben. Gemäß der neuen PLO-Charta, die Arafat allerdings noch nicht gutgeheißen hat, würde Abu Alaa als legaler Nachfolger bestimmt.

Ferner fällt in der Frage des Arafat-Erben ab und an auch der Name des 1940 in Bagdad geborenen Faysal Husseini. Zusammen mit Hanan Achraui und Sari Nuseibeh gehört er der aus dem Autonomiegebiet hervorgegangenen "jungen Generation" an. Husseini repräsentiert eine betont gemäßigte Linie und befürwortet konsequent das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Bemerkenswert ist seine perfekte Beherrschung des Hebräischen, weshalb ihn die US-Außenminister James Baker und Warren Christopher besonders schätzten.

Der mit Diplomen aus Oxford und Harvard ausgestattete Sari Nuseibeh, heute Professor an der palästinensischen Universität Bir Zeit, gilt als eine der volkstümlichsten Persönlichkeiten im Autonomiegebiet. Dies wohl auch deshalb, weil er seinen Stammbaum vom Kalifen Omar ableitet. Nuseibeh hat im Januar 1988 aktiv an der Volkserhebung (Intifada) gegen die israelische Besatzungsmacht mitgewirkt und dann jegliche Beziehungen mit den jüdischen Behörden abgebrochen, weshalb diese ihm seither "die Hölle heiß machten".

Zum weiteren Kreis der möglichen Arafat-Nachfolger zählen schließlich zwei "starke Männer" des Autonomiegebietes: Rajub Jibril, der Sicherheitschef des Westjordanlandes, und sein für den Gaza-Streifen zuständiger Kollege Mohamed Dahlan. 1951 bei Hebron geboren, war Jibril schon als Junge Fatah-Aktivist, warf eine Granate auf ein israelisches Militärfahrzeug und wurde 1968 für 17 Jahre eingesperrt. Während der Haft erlernte er perfekt die hebräische Sprache, was ihn nach dem Handschlag zwischen Rabin und Arafat (1993 in Washington) für den Kontakt mit der israelischen Staatsicherheit qualifizierte. Rajub Jibril verfügt heute über bekanntermaßen gute Verbindungen zur israelischen Armeeführung.

Der zweite "starke Mann", Mohamed Dahlan, kam 1962 in Khan Yunis zur Welt, gründete im Jahre 1983 die Jugendorganisation der Fatah, wurde vier Jahre später inhaftiert und nach Jordanien ausgewiesen. Von dort bzw. von seinem späteren Exil in Tunis aus unterhielt er rege Verbindungen in die Heimat und organisierte 1994 die Übersiedlung der PLO-Zentrale von Tunesien nach Gaza, wobei allerdings die Ministerien für Auswärtiges, Verteidigung, Wirtschaft und Flüchtlingsfragen bis auf weiteres in Tunis verblieben.

Genaue Vorhersagen über den Ausgang des hinter den Kulissen längst angelaufenen Gerangels um die Leitung der Geschicke des palästinensischen Volkes lassen sich noch nicht machen. Fest steht jedoch, daß mit jedem weiteren Fehlschlag in der Nahostpolitik die Gewichte weiter zugunsten der radikaleren Kandidaten verschoben werden.


 
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