© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/98  08. Mai 1998

 
 
Aktion Weichsel: Vor 50 Jahren wurden die Ukrainer von Polen vertrieben
Die Diskriminierung bleibt
von Jochen Arp

Die ukrainische Volksgruppe in Polen meldet sich wieder zu Wort. Trotz aller Versuche, sie, wenn sie schon nicht auszurotten war, durch Zerstreuung über das ganze Land als Minderheit auszumerzen und die einzelnen Ukrainer zu polonisieren, geht man heute davon aus, daß sich bis 200.000 bis 300.000 Bürgerinnen und Bürger Polens als Ukrainer verstehen.

Vor dem Zweiten Weltkrieg zählte die ukrainische Volksgruppe im Südosten Polens vier bis sechs Millionen Menschen, die in einem geschlossenen Gebiet siedelten. Die Masse gehörte freilich erst seit 1920 zum polnischen Staat, als der, die Schwäche der von Bürgerkriegen geschüttelten Sowjetunion ausnutzend, zum Angriff auf die Westukraine ansetzte und dieses Gebiet annektierte. Die Ukrainer wollten keine Polen sein. So bildeten sie als die größte nationale Minderheit eine Quelle ständiger Unruhe. Ein Aufstand folgte dem anderen. Polnisches Militär unterdrückte sie. So verwundert es nicht, wenn die am 17. September 1939 einrückenden sowjetischen Truppen zunächst von den seit fast 20 Jahren von den Polen unterdrückten Ukrainern als Befreier begrüßt wurden, so wie die deutsche Minderheit in Polen die einrückende deutsche Wehrmacht als Befreier empfing. Die von den Polen 1920 eroberte Westukraine wurde an die UdSSR zurückgegeben, doch blieben auch nach 1945 zunächst immer noch große Gruppen von Ukrainern innerhalb der neuen polnischen Grenzen. Nachdem die Einladung der Sowjetunion, sie mögen in die Sowjetukraine übersiedeln, wenig Erfolg gehabt hatte, griff man zu Zwangsmaßnahmen: zwischen Ende 1944 und August 1946 wurden insgesamt 480.000 Ukrainer aus Polen in die UdSSR zwangsumgesiedelt. Aber die Hoffnung der polnischen Regierung, daß nunmehr Polen endlich frei sei von den unbequemen Ukrainern, hatte getrogen. Viele Ukrainer hatten sich der Zwangsumsiedlung entzogen, andere lebten in national gemischten Familien.

Ihrem Grundsatz folgend, daß Polen ausschließlich das Land der Polen sein sollte, beschloß die polnische kommunistische Regierung Anfang 1947, die auf 150.000 Menschen geschätzte ukrainische Volksgruppe mit Hilfe der polnischen Armee umzusiedeln in die menschenleer gewordenen deutschen Ostgebiete. Im April 1947 schlugen fünf polnische Divisionen auf Befehl des Generalsekretärs der polnischen kommunistischen Partei, Wladyslaw Gomulka, los. In der "Aktion Weichsel" setzte man 4.000 Mitglieder der ukrainischen Minderheit fest, die man zur Führungsschicht rechnete: Wissenschaftler, Lehrer, Geistliche, Leiter ukrainischer Organisationen. Sie wurden zunächst zum Verhör in ein früheres Nebenlager des KZ Auschwitz, nach Jaworzno, deportiert, um sodann in das eigentliche KZ, das von den Polen weiter betrieben wurde, gebracht zu werden. Dabei kamen viele Ukrainer ums Leben. Erst 1950 wurden die Überlebenden freigelassen.

Nachdem man so der ukrainischen Minderheit den Kopf abgeschlagen hatte, erschienen fünf polnische Infanteriedivisionen, eine Division des Sicherheitsdienstes sowie andere Spezialeinheiten in den von Ukrainern bewohnten Orten. Die dort seit Generationen lebenden Ukrainer wurden gezwungen, innerhalb von zwei Stunden ihre Heimat zu verlassen, um unter Militärbewachung den Marsch in die ehemaligen deutschen Ostgebiete anzutreten. Sie ließen über 200.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche ebenso zurück wie 44.000 Hektar von ihnen bewirtschafteten Wald. Wer sich gegen die Deportation wehrte, wurde kurzerhand erschossen. Das polnische Militär legte die Dörfer in Schutt und Asche. Auch ein Großteil der griechisch-katholischen Kirchen, zu der sich 80 Prozent der in Polen lebenden Ukrainer bekannten, wurden gesprengt oder in Brand gesteckt.

Damit sich die ukrainische Volksgruppe nicht neu organisieren konnte, verteilte die polnische Regierung die vertriebenen Ukrainer nach einem genauen Plan auf die ehemaligen deutschen Dörfer: Nicht mehr als drei ukrainische Familien sollten in einem Dorf angesiedelt werden; diese Familien mußten aus verschiedenen ukrainischen Orten stammen. Der Unterricht in ukrainischer Sprache wurde ebenso verboten wie griechisch-katholischer Gottesdienst.

Als auch in Polen der Kommunismus zusammenbrach, nutzten die Ukrainer die Chance, sich wieder zu organisieren. Größte und einflußreichste Organisation ist der "Verband der Ukrainer in Polen". Der Versuch der ukrainischen Volksgruppe, sich an Wahlen zu beteiligen, war angesichts ihrer Zerstreuung bislang wenig erfolgreich. So stellt sie zur Zeit nur einen Abgeordneten im Sejm.

Die Ukrainer verlangen, daß die stalinistischen Dekrete aufgehoben werden, aufgrund derer ukrainisches Vermögen in Polen beschlagnahmt wurde. Bis heute warten die Ukrainer auf Rückgabe ihres Eigentums oder auf Schadensersatz. Zwar hat die Generalstaatsanwaltschaft Kattowitz festgestellt, daß die Deportation der 4.000 Ukrainer nach Auschwitz ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war und daß dabei über 160 Ukrainer zu Tode gebracht worden sind, doch hat das keine praktischen Auswirkungen gehabt. Es gibt zwar mehrere Zeitungen und Zeitschriften in ukrainischer Sprache, zwar können die Ukrainer wieder Festivals ihrer Kultur und Volkskunst veranstalten, zwar existieren auch an mehreren polnischen Universitäten Lehrstühle für ukrainische Philologie und Geschichte, doch bleiben die Diskriminierung und der Verlust der Heimat.

In Polen wird die Vertreibung der Ukrainer im Rahmen der "Aktion Weichsel" damit begründet, man habe lediglich der Ukrainischen Untergrundarmee UPA, die damals gegen Sowjets und Polen sowie gegen die deutsche Besatzungsmacht für Unabhängigkeit kämpfte, den Boden entziehen müssen. Tatsächlich sollte, wie es damals in einer Erklärung des "Ministeriums für die wiedergewonnenen Gebiete" hieß, die ukrainische Minderheit "in einer neuen polnischen Umgebung assimiliert werden".

Heute versuchen die polnische wie die ukrainische Regierung, die unverändert vorhandenen Spannungen zwischen Polen und Ukrainern abzubauen. Im Mai 1997 wurde eine "Versöhnungserklärung" vom polnischen Präsidenten Kwasniewski und vom ukrainischen Präsidenten Kutschma in Kiew unterzeichnet, die so vage abgefaßt ist, daß sie kaum etwas besagt. Schon die Formulierung, das Verschweigen der beiderseitigen Opfer und die einseitige Darstellung der historischen Tatsachen dienten nicht der Verständigung, stieß auf heftige Kritik beider Volksgruppen, von denen jede darauf beharrt, daß ihre Sicht der Dinge die allein richtige sei.

In der polnischen Regionalpresse blieben die Ukrainer die "Terroristen", die "Faschisten", die "Nichtchristen". Und wenn überhaupt das Tabu-Thema "Aktion Weichsel" erwähnt wird, dann wird die Zwangsdeportation auch heute noch damit gerechtfertigt, daß anders die stets unruhige ukrainische Volksgruppe nicht hätte zur Raison gebracht werden können. So belasten die jahrzehntelang betriebene Unterdrückung der ukrainischen Volksgruppe in Polen und die polnische Uneinsichtigkeit auch das Verhältnis zwischen der nun unabhängigen Ukraine und Polen.


 
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