© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/98  08. Mai 1998

 
 
Deutsche Zustände
von Thorsten Thaler

Deutschland im Frühjahr 1998. Eine Zustandsbeschreibung in drei Momentaufnahmen aus den vergangenen Tagen.

 

Erste Szene: In Dresden wird eine für den 1. bis 3. Mai geplante Tagung der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung zum Thema "Meinungsvielfalt international" mit der fadenscheinigen Begründung abgesagt, es hätten sich angeblich sich nur 13 Teilnehmer angemeldet. Tatsächlich dürfte den linksgestrickten Kritikern der Veranstaltung die Zusammensetzung des Podiums ein Dorn im Auge gewesen sein. Eingeladen waren u.a. der Chemnitzer Extremismusforscher Eckhard Jesse, der Wiener Publizist Günther Nenning, der Sächsische Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Siegmar Faust, sowie der rechtsintellektuelle Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann.

 

Zweite Szene: In Leipzig liefern sich am 1. Mai gewalttätige Linksextremisten eine regelrechte Straßenschlacht mit der Polizei, die eine vom Oberverwaltungsgericht genehmigte Kundgebung der NPD auf dem Gelände des Völkerschlachtdenkmals vor den Chaoten schützt. Mit Steinen, Flaschen und Leuchtspurmunition greifen haßerfüllte Autonome die Beamten an, versuchen die Absperrung zu durchdringen. Nur unter Aufbietung aller Kräfte und durch den Einsatz von Wasserwerfern gelingt es der Polizei, eine direkte Konfrontation zu vermeiden. Noch Stunden nach den bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen bietet das Areal rund um das Völkerschlachtdenkmal ein Bild der Verwüstung.

 

Dritte Szene: In Berlin präsentiert Horst Mahler, ehemals RAF-Mitbegründer und Chefdenker des Linksterrorismus, ein neues Buch des konservativen Publizisten Ansgar Graw. In kleinen Grüppchen stehen die Anwesenden zusammen, angeregt unterhalten sich die beiden Antipoden Graw und Mahler; mit den üblichen Rollenklischees und Links-rechts-Projektionen ist diese Veranstaltung freilich nicht zu fassen. Im Vordergrund steht das ehrliche Bemühen um einen Dialog über Gräben hinweg. "Wir müssen reden, damit wir nicht aufeinander schießen" – die Position Mahlers gewinnt angesichts der Realitäten von Leipzig und der schweren Straßenkrawalle in Berlin am 1. Mai eine beklemmende Bedeutung.

Deutschland im Frühjahr 1998. Drei Momentaufnahmen, die den Blick schärfen für den Zustand dieser Republik. Es sind Szenen, die Zorn hervorrufen, aber auch nachdenklich stimmen und sogar einen Schimmer Hoffnung auslösen. Hoffnung auf jene Wiederkehr "von Anfechtung und Prüfung, von Wagnis und Skepsis", deren Fehlen Botho Strauß beklagte, als er feststellte: "Zwischen rechts und links verkehren nur noch Retourkutschen."


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen