© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/98 15. Mai 1998

 
 
Uta von Naumburg: Zu einer brillianten Studie über eine deutsche Ikone
Inszenierung des Schiksals
von Thorsten Hinz

Um 1250 wurden zwölf lebensgroße Stifterfiguren aus Muschelkalk im Westchor des Naumburger Doms plaziert. Mehr als 600 Jahre später kamen sie in den Ruf nationaler Heiligtümer; insbesondere die Figur der Frau Uta – einer Markgräfin aus dem Haus der Askanier, über die nur bekannt ist, daß sie mit dem Markgrafen Ekkehard, dessen Standbild neben dem ihren steht, verheiratet war – gewann Symbolkraft als Verkörperung von Anmut, Würde, Grazie, Stolz, kurzum: als Inkarnation deutschen Wesens. In den dreißiger Jahren ereichte der Kult um Uta seinen Höhepunkt. Wallfahrten nach Naumburg wurden organisiert, Theaterstücke um Ekkehard und Uta kamen auf die Bühne. Auch in der DDR galt Uta später als vorbildhaft.

Der Aufstieg der übrigens bemalten Figur zur deutschen Ikone geschah erst zu Beginn dieses Jahrhunderts "im Schnittpunkt eines gräkophilen Humanismus und eines pathetisch-romantischen Expressionismus" (W. Ullrich). Noch die Romantik hatte ihr keinerlei Beachtung geschenkt. Weil man so wenig von den realen Vorbildern der Figuren wußte, eigneten sie sich als Projektionsflächen für Sinnstiftungen und Orientierungsmuster. Populär wurden die Plastiken durch das Medium der Fotografie. Die berühmten Aufnahmen von Walter Hege, der mit Untersichten und Lichteffekten arbeitete, betonten stets die auratische Qualität der Figuren.

Der junge Münchner Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich hat dazu eine fulminante und außerordentlich kenntnisreiche Studie ("Uta von Naumburg. Eine deutsche Ikone". Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998. 142 S., 19,80 DM) verfaßt. Seine Analyse des Uta-Kults bewegt sich in einem Schnittfeld aus Kultur, Politik, Geschichte, Kunstgeschichte, was zwingend ist, weil die Rezeption der Skulpturen in Intention und Wirkung weit über den Kunstraum hinausgriff, ganz im Sinne einer unkritischen, die Kunst transzendierenden deutschen "Kunstreligion".

Diese stand in einer Tradition, die Schiller in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" mitbegründet hatte, als er den Verlust der Lebenszusammenhänge als Preis zivilisatorischen Fortschritts konstatierte: "Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug." Ihre Heilung sollte die Kunst übernehmen. Zwar stellten sich Lebensfragen zunehmend als politische dar, doch meinte Schiller, "daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das Ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert."

Der Westchor im Naumburger Dom wurde zum Ort der Erbauung, zur Weihestätte, in der die religiöse Sakralität in eine nationale überging : "Das deutsche Volk steht im Dom zu Naumburg in steinernden Bildern und verkündet die Seele des deutschen Menschen und das gemeinsame Schicksal des deutschen Lebens. Deutschland selbst ist der Dom", so ein Einführungstext aus den dreißiger Jahren. Organisierte Besuchergruppen wurden darauf eingestimmt, hier den Schauer der Kunst, die Ahnung von Tragik, Schicksal, von der Opferbereitschaft der Frau zu spüren, die dem kämpferischen Mann zu Seite steht, unter dessen rauher Schale sich ein weiches Herz verbirgt. Wobei es kaum um wissenschaftlich begründete Stilkriktik und -analyse, sondern um retrospektive Einfühlungen und Deutungen ging, die den (politischen) Interessen der Gegenwart verpflichtet blieben. Das Bemühen um die Übersetzung mittelalterlicher Erhabenheit in die Wort- und Bildsprache der Gegenwart zeitigte dabei seltsame Ergebnisse: Die Schauspielerin Else Petersen vom Braunschweigischen Landestheater erscheint in ihrer Uta-Rolle maskenhaft starr; die Form ist nicht Ausdruck erhöhten Lebens, sondern der Wille zur Form hat alle Lebendigkeit unterdrückt.

Die beabsichtigten und erzielten Effekte entsprachen in Wahrheit dem, was Umberto Eco in seiner Untersuchung über "Die Struktur des schlechten Geschmacks" den "Midcult" der Kulturindustrie nannte: Er nimmt Anleihen bei der Avantgarde auf, die längst konfektioniert ist; er gibt dem kunstgeschichtlich ungebildeten Konsumenten die Illusion, das "Herz der Kultur" schlagen zu hören, sich von ihr erhoben zu fühlen.

Das differenzierte Figurenensemble insgesamt wurde als Sinnbild der spannungsreichen Vielheit und der unaufgelösten, mit Heroismus ausgehaltenen Widersprüche des paradoxienreichen "deutschen Charakters" interpretiert, analog zu den Worten von Goethes Faust: "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust", die häufig, unter anderem von Nietzsche und Thomas Mann, variiert worden sind. Auch diese "deutsche Eigenheit" hält Ullrich für eine Legende, die eine das Selbstwertgefühl steigernde deutsche Exklusivität begründen sollte. Sein Buch ist implizit gegen Bestrebungen gerichtet, die darauf abzielen, eine von der Nachkriegszeit gereinigte "deutsche Ästhetik" zu substituieren und zum Ausgangspunkt von nationaler Neubesinnung und Politik zu machen. Selbst wenn man ihm zustimmt und derlei als anachronistischen, doppelt verspäteten Versuch bewertet, die durch die Kultur und katastrophische Geschichte geschlagene "Wunden" zu schließen, stellt sich die Frage, ob Ullrich nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschüttet.

Als sich gegen Ende von Bismarcks Amtszeit die Beziehungen mit Rußland zuspitzten und er am 6. Februar 1888 als Staatsmann der Sorge zu einer Friedensrede vor den Reichstag trat, nannte dieser unsentimentale Vollblutpolitiker ausdrücklich die innere Zerrissenheit der Deutschen als einen Risiko-Posten. Man kann auch auf Ortega y Gassets Aufsatz "Das zweigeteilte Deutschland" (1908) oder auf mentalitätsgeschichtliche Studien von Norbert Elias verweisen.

Vor allem aber haben Nietzsche und Thomas Mann ihre Auffassung von der "deutschen Zerrissenheit" als Quelle künstlerischer Inspiration anhand der Musik exemplifiziert. Vor einigen Monaten hat der Musikwissenschaftler Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel "Im Land der Tiefe" diesen Topos aufgegriffen und das Spezifische der deutschen Musik stilkritisch herausgearbeitet: Das "Werden", die Paradoxien, die "Mischungen aus Freiheit, Logik und Wachsen" fände ihre musikologische Entsprechung in "entwickelten Variationen", "kontrastierenden Ableitungen", "motivischen Abspaltungen". Und vielleicht stellt sich noch heraus, daß man auf die Frage nach Uta und den anderen Stifterfiguren im ausdrücklichen Wissen um nationale Hybris und um eine mißglückte Rezeption in diesem Jahrhundert mit aller Demut dieser Welt und ein ganz klein wenig Stolz sagen kann: Es sind unter anderem und trotzdem deutsche Ikonen!


 
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